NATIONAL GEOGRAPHIC TRAVELER

ALS DIE DÄMMERUNG DIE STERNE AUS DEM BLÄTTERDACH VERDRÄNGT, SCHWEBEN SILHOUETTEN DER FEENVÖGEL, WIE MAN SIE HIER NENNT, DURCH DIE LUFT.

bestimmen und Trinkwasser aus den Untiefen herbei- zaubern können. Das will ich nicht bezeugen,“ sagt er achselzuckend. „Aber zweifellos kennen diese Leute das Meer. Es ist, wer sie sind. Nach der Geburt eines Kindes werfen sie die Plazenta ins Meer und sagen, dass sie den Menschen auf jeder Reise seines Lebens begleitet – wie eine Art Wassergeist.“ Die Bajau sind nur eine der vielen Gemeinschaften, die sich am östlichen Rand der weltgrößten Inselgruppe einen Lebensraum geschaffen haben. Es ist allerdings Neuland für die zweiwöchige Segelexpedition der SeaTrek, die von der Insel Ternate in Indonesiens nördlichen „Gewürzinseln“ ablegt, um einer duftenden Strecke folgend südostwärts nach Sulawesi zu gelangen. Wenn man seine Karriere nicht wie unser ansässiger Schifffahrtshistoriker an Bord einer Bajau-Schaluppe verbringen kann, die zu abgelegenen ozeanischen Siedlungen segelt, ist dieser Ausflug auf der Ombak Putih („weiße Welle“), eines von SeaTreks zwei traditionellen hölzernen Pinisi-Schiffen, die beste Alternative. Als ich sie zum ersten Mal sehe – mit einem glän- zenden Rumpf aus Eisenholz und sieben tiefblauen Segeln –, stiehlt die Ombak Putih der Insel Ternate und der danebenliegenden Tidore beinahe die Schau. Im Gegensatz zu den klobigen, frisierten Booten, die in Indonesiens östlichen Raja-Ampat-Atollen als Boote für Tauchsafaris weit verbreitet sind, hätten die schön erhaltenen Konturen der Putih auch vor 1000 Jahren im Hafen von Ternate nicht fehl am Platz gewirkt. Ihre eleganten Linien erinnern an die jahrhundertealte Bootsbautradition der Insel Sulawesi, die geschickte Handarbeit stammt von der Volksgruppe der Bugis, die Indonesien 2017 eine Nominierung für Immaterielles Kulturerbe einbrachte. Früher waren Pinisi sogar auf dem 100-Rupien-Schein abgebildet, und heute sind sie immer noch ein zentraler Bestandteil des ausgedehnten Schifffahrtsnetzes der Nation. Nach wie vor fallen als Ladung Muskatnuss, Muskatblüte und Nelken schwer ins Gewicht. Sie machten die Molukken zu Indonesiens mächtigsten Inseln, lange bevor die niederländische Ostindienkompanie und europäische Siedler sie für sich entdeckten. Hinter einer bescheidenen Ladenfront nahe dem Hafen von Ternate finde ich gekräuselte rote Berge von Muskatblüten auf dem Boden und Leinensäcke voll von den Samen, die sie vorher umgaben. Ringsum liegen Reihen von Muskatnüssen, die nach Gewicht und Glanz kategorisiert werden, Säcke von Nelken fallen fast von Regalen und verströmen ihr weihnachtliches

Aroma in die 40 Grad heiße Luft. „Indonesien war ein- mal weltweit der einzige Hersteller von Nelken“, erklärt SeaTrek-Führer Arie Pagaka, der für den chinesischen Ladenbesitzer dolmetscht. „Nelken und Muskat sind immer noch die Haupteinkommensquelle von Ternate.“ Vieles davon geht nach Osten, Richtung China, auf einer Route, die seit Jahrmillionen besegelt wird. SEGELTÖRN MIT MISSION Es gibt allerdings noch exotischere Dinge, die sich in den Bäumen von Indonesiens Gewürzsultanaten ver- stecken. Auf der Nachbarinsel Halmahera, die wie ein Seestern geformt ist, trefffe ich den Bänderparadies­ vogel – und seine Erscheinung ist weit mehr als eine Kompensation für die Stunde, die ich vor Tagesanbruch im feuchten Flachland-Regenwald von Halmahera hockend verbracht habe. Als die Dämmerung die Sternenkonstellationen aus dem Blätterdach verdrängt, schweben Silhouetten dieser „Feenvögel“, wie man sie hier nennt, wie Schmetterlinge durch die Luft. Während die Sonne aufgeht, wird es offensichtlich, dass sie nicht wirklich schweben – sie bewegen sich wie Ninjas, die mit ausschweifenden Federboas ausgestattet sind. Die Männchen zeigen ein zitterndes Balzverhalten, bei dem sie von Ast zu Ast hüpfen und das Blätterdach zum Beben bringen. Wenn man dies in der Dämmerung beobachtet, scheinen sie mit den Bäumen verwach- sen zu sein. Das Tageslicht beweist jedoch, dass es bei ihrem verrückten Gerangel sehr präzise zugeht: Schillernde grüne und kobaltblaue Federn blitzen, als sie statuengleiche Posen einnehmen, und unglaublich

Im Uhrzeigersinn (v. o.): Auf dem oberen Deck der

Ombak Putih gibt es jederzeit ein freies Plätzchen. Am Pier von Halmahera auf den Nordmolukken wird Benzin transpor- tiert. Ein Bänderpara­ diesvogel macht sich bereit zum A bflug.

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INDONESIEN

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