WIE SO VIELE INDONESIER, DIE AM RANDE DES OZEANS LEBEN, HATTE NITA LANGE KAUM UNTER DIE OBERFLÄCHE GESCHAUT. BIS VOR FÜNF JAHREN.
Wallace wiederzubeleben. Denn das Vermächtnis des viktorianischen Naturforschers wurde über die Zeit vom aufgehenden Stern Darwins überschattet. Dieser gab bis zum Schluss nur widerwillig zu, dass er die natür- liche Selektion zusammen mit Wallace entdeckt hatte. Schließlich wurde Wallace in manchen Kreisen als ein Unterklassen-Emporkömmling verspottet, der sich alles selbst beigebracht hatte. Bill Bailey ist Schirmherr des Alfred Russel Wallace Memorial Fund, der von George Beccaloni gegründet wurde, um seines Helden zu geden- ken. Das Projekt „Wallace Correspondence“ versucht, alle erhaltenen Briefe und Manuskripte von Wallace zu lokalisieren, digitalisieren und interpretieren – ein beeindruckendes Lebenswerk. Ich lasse George inmitten der Bäume zurück, Kamera in Position, und wate ins lauwarme Meer, um den bunten Himmel zu beobachten, der sich mit Wolken aus Hunderten von Regenschirmen dunkel färbt. Der Anblick ist surreal – eine Erfahrung, die ich nicht verges- sen werde. Dann ist es Zeit, Segel zu setzen. Der Kapitän ruft bereits nach uns. Wie immer bin ich die Letzte, die an Bord kommt. Denn diesmal habe ich entdeckt, wie viel Spaß es macht, in voller Geschwindigkeit auf einem Paddleboard hinter dem starren Schlauchboot des Schiffes herzufahren – und dabei zu versuchen, auf- recht stehen zu bleiben. Paddleboard-Wasserski ist nur eine von Nita CJs einfachen, aber genialen Ideen. Die SeaTrek-Führerin ist immer draußen an Deck – oder gerade im Wasser beim Tauchen oder Schnorcheln. Das Wasser scheint ihr natürliches Element zu sein. Aber wie so viele Indonesier, die am Rande des Ozeans leben, hatte Nita lange kaum unter die Oberfläche geschaut. Bis vor fünf Jahren. „Als ich zum ersten Mal geschnor- chelt bin, bin ich ausgeflippt. Da war so viel Leben!“, erzählt Nita begeistert. „Je öfter ich es tat, desto mehr verliebte ich mich in das, was dort unten ist, und desto mehr wollte ich es schützen.“ Deshalb gab sie ihren Job im Finanzwesen auf. Ihre Initiative „Peek Under the Surface“ verteilt nun gebrauchte Schnorchelausrüstung an Kinder von den abgelegensten Inseln Indonesiens, um ökologisches Bewusstsein zu schaffen. Die Bajau-Speerfischer stellen zwar Taucherbrillen aus Glasflaschen her, aber eine Schnorchelausrüstung ist hier ein exotisches Gut. „Und man kümmert sich nicht um das, was man nicht sieht“, sagt Nita. In dem hübschen, von einem Lattenzaun umgebenen Dorf Tumbulawa werden geschenkte Taucherbrillen und Bücher mit Longanfrüchten belohnt, süß wie Litschis. Von gepflegten Feldern mit Indigopflanzen weht Patchouliduft über das Fußballfeld, auf dem Ziegen grasen und die Zahl der Kinder, wie immer, jene der
Erwachsenen weit übertrifft. Es gibt keinen Ball, statt- dessen erfüllt fröhliches Kreischen die Dämmerung und konkurriert mit dem hubschrauberartigen Ruf der Nashornvögel, die gerade im Aufbruch sind. „Man sagt, dass die Vögel pünktlicher sind als der Imam“, so unser Guide Arie, als der abendliche Gebetsruf ertönt. Wir fahren mit dem Motorboot durch unbe- rührte Mangrovendickichte zurück zum Schiff, wo die Deckhelfer gerade einen Tintenfisch aus dem Meer ziehen. Er ist beinahe einen Meter lang und stößt beein- druckende Wasserstrahlen aus, als er das Meer verlässt. Die Männer glauben, dass er seinen letzten Atemzug getan hat, doch eine letzte Hochdruckfontäne ergießt sich über die Küchenkabine, die Besatzung und die meisten von uns draußen. Abendessen mit Showeinlage. Doch der gefangene Tintenfisch verblasst vor dem Spektakel der Putih , deren Segel gesetzt werden. Es ist eine Aufgabe, die mit der blitzschnellen Effektivität einer Formel-1-Crew ausgeführt wird (falls diese mit Tonnen von Segeltuch in 30 Meter Höhe kämpfen müsste). Dies ist nur eines der vielen Qualitätsmerkmale des Schiffes, und ich fange sogar an, das Geklapper des Ankers zu lieben. Es erinnert an die Charles-Dickens-Figur Jacob Marley und weckt mich bei Tagesanbruch im tiefblauen Nirgendwo zum Schwimmen. Als wir vom berghohen Rumpf der Putih wegschwimmen, befindet sich sogar das untere Deck weit über meinem Kopf, und die Mastbalken verschwin- den fast im Himmel. Ich tauche ein in die Weiten des Meeres, glatt wie ein Spiegel bis auf ein paar angedeutete Wellen. Nach den regenbogenfarbenen und belebten Riffen kommt es mir vor, als würde ich durch den Himmel schwimmen – eine tiefblaue Leere mitten im Ozean, in das sich Unterwasser-Sonnenstrahlen tasten.
Von oben: Mit über 17000 Inseln ist Indonesien der größte Inselstaat der Welt. Eine Schule von gestreiften Brassen mit großen Augen streift durch Indonesiens Korallendreieck.
Ich denke an Jago und tauche tiefer. Aus dem Englischen von Isabel Hagedorn
66 NATIONAL GEOGRAPHIC TRAVELER 3/2022
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