NATIONAL GEOGRAPHIC TRAVELER

CENTRO STORICO Geschichte mal anders im Vom Trevibrunnen bis zur Spanischen Treppe: Das historische Zentrum strotzt vor gefeierten Sehenswürdigkeiten. Doch auch abseits der weltberühmten Attraktionen offenbaren sich an jeder Ecke faszinierende Geschichten.

VON OBEN: Die Spanische Treppe

verbindet die Piazza di Spagna mit der Piazza Trinità dei Monti. Werke von Caravaggio verzieren die Wände der Kirche San Luigi dei Francesi. VORIGE SEITEN, Gricia bei Da Bucatino. Die Spanische Treppe. Die Decke der Kirche Santa Maria. Blick auf den Petersdom von der Ponte Sant’Angelo. IM UHRZEIGERSINN (V. L. O.): Pasta alla

M itten auf der Via del Babu­ ino, umgeben von Desig­ nerläden, macht Giuseppe Albano an einem Café halt. Von außen sieht das Canova Tadolini aus wie jedes andere auch. Aber Giuseppe zeigt nach innen, zu einem riesigen weißen Mann, der auf einem riesigen weißen Pferd sitzt, hinter ihnen noch weitere geisterhaf­ te weiße Statuen. „Dies war das Studio von Canova und seinem Meisterschüler, Tado­ lino“, sagt Giuseppe. Der Mann auf dem Pferd ist aus Gips, genau wie die Figuren hinter ihm, einschließlich Athleten und einer Nonne. Die Werkstatt gehörte bis 1967 der Familie von Tadolino und wurde dann zum Café. Touristen gehen vorbei, ohne zu merken, was sich drinnen befin­ det, da sie sich mehr für Il Babuino interes­ sieren, einen Brunnen in der Nähe. In den vergangenen Jahrhunderten brachten die Römer anonyme Notizen dort an, in denen sie sich gegenseitig diffamierten. „Das damalige Twitter“, sagt Giuseppe lachend. So ist es nämlich in Rom. Die Stadt hat so viele Facetten, dass man die Hauptstra­ ßen gar nicht verlassen muss, um abseits der bekannten Attraktionen zu gelangen – man muss nur etwas genauer hinsehen. Dies ist die Lektion, die ich von Giuseppe lerne, während wir die Via del Babuino entlangschlendern. Der Bummel durch eine luxuriöse Einkaufsstraße erweist sich als Streifzug durch die Geschichte. Dies ist die Route, die Briten einst auf ihrer sogenannten Kavaliersreise einschlugen: Sie kamen an der großspurigen Piazza

del Popolo an und trotteten dann die Via del Babuino hinunter zu ihrer Unterkunft nahe der Piazza di Spagna. Giuseppe ist der Direktor des Keats- Shelley-Hauses, eines Museums, das sich den romantischen Dichtern widmet. Heute zeigt er mir seine Art, die Via del Babuino zu besichtigen, die hauptsächlich daraus besteht, nach oben zu sehen. „Die Leute beachten die Architektur nicht“, erklärt er. In der Tat sieht man über den Schaufenstern eine Serie von Palazzi, einer beeindruckender als der andere. „Würden diese alleine für sich stehen, würden die Leute sie bestaunen“, sagt Giuseppe. „Aber da sie alle zusammen auf einem Fleck sind, bemerkt man sie nicht.“ Nachdem wir das prunkvolle Hotel de Russie passiert haben, bleiben wir am Palazzo Boncompagni Sterbini stehen. Genau wie die Spanische Treppe und der Trevibrunnen ist dies eine großartige Vorführung des Rokokos aus dem 18. Jahrhundert, nur dass hier kaum ein Tourist stehenbleibt. Die Muschelscha­ len über den Fenstern sind eine subtile Prahlerei, dass jemand in der Familie den Jakobsweg absolviert hat, erklärt Giusep­ pe. In Nischen findet man eindrucksvolle Büsten von Herrschern. „Schau dir die an­ deren Gebäude genau an“, beauftragt mich Giuseppe. „Du wirst Rom in einem ande­ ren Licht sehen.“ Eingravierte schwülstige Delfine und Wellen tanzen um die Tür mit der Nummer 51 herum. An der Spanischen Treppe verabschie­ de ich mich von Giuseppe und tauche tiefer ein in das gut besuchte Centro Storico, das

MEHR INFO: Die private Reiseleiterin Valentina Bonaccorsi bietet dreistündige personalisierte Führungen durch das Centro Storico an. Preise ab 250 Euro exklusive Eintrittskarten, facebook.com/ aregoladartetour , canovatadolini.com , ksh.roma.it , stadiodomiziano.com , doriapamphilj.it Bernini und Tintoretto – gibt es in der Galerie Doria Pamphilj. Das Paradestück hier ist der Spiegelsaal, der an Versailles erinnert. Aber am außergewöhnlichs­ ten von allem ist das Porträt von Papst Innozenz X. von Velázquez. „Es ist zu real!“, soll der Gemalte geschrien haben, als er seine gefleckte Haut und sein ausladendes Kinn sah. Sogar jetzt, Jahrhunderte später, scheint es so naturgetreu zu sein, dass ich das Gefühl habe, seine runden, glänzenden Augen folgen mir in der Galerie. So weit, wie Rom ist, findet man hier Intimität wie sonst nirgendwo. Julia Buckley historische Zentrum der Stadt. Auch hier gibt es an jeder Ecke Überraschungen. Ich wusste schon, dass die typisch längliche Form der Piazza Navona daher stammt, dass der Platz einst ein Stadion war, aber diesmal gehe ich die Treppen von der Kasse nach unten, um unter den riesigen Travertinbögen am Rand entlangzuschlen­ dern. Nachdem ich mich mit einem Bio­ kaffee bei Sant’Eustachio Il Caffé gestärkt habe, betrete ich die Kirche San Luigi dei Francesi und betrachte drei Zeichnungen von Caravaggio: wie angestrahlt wirken­ de Abbildungen des Lebens von Apostel Matthäus auf dunklem Grund. Noch mehr von Caravaggio – zusammen mit Tizian,

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