NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

EIN ANDERER BLICK: DER TEIL FÜR DAS GANZE I N DER PALÄOLITHISCHEN KUNST sind Darstellungen der Schamgegend in Form dreieckiger, konischer oder run- der Linien mit einer zentralen Linie im Inneren üblich. Sie sind mindestens 24 000 Jahre alt und kommen vor allem in Frankreich und auf der Iberischen Halbinsel vor – in Gebieten, in denen Funde weiblicher Statuetten weniger häufig sind als in Mitteleuropa. Ihre Botschaft ist jedoch dieselbe: Die Konturen markieren die Leisten- und Unterleibsfalten von Menschen, die in diesem Bereich Fett ansammeln, wie etwa übergewichtiger oder schwangerer Frauen.

dargestellt, obwohl auch diese Statuetten nackte Frauen ohne individuelle Gesichtszüge zeigen. Was mag der Grund für diese Abweichung sein? Hier kommen wir vollends auf das Gebiet der Spe- kulation. Eine Möglichkeit wären soziale Ursa- chen, die mit einem besseren demografischen Gleichgewicht zusammenhängen – womög- lich standen die Gemeinschaften, in denen die „schlanken“ Venusfigurinen entstanden, unter einem geringeren Fortpflanzungsdruck. Die Rolle der Frauen Die vergleichsweise zahlreichen Funde jung- paläolithischer weiblicher Statuetten und das Überwiegen weiblicher gegenüber männlichen Darstellungen scheinen die soziale Bedeutung der Frauen in den Jäger- und Sammlergesellschaften jener Zeit zu verdeutlichen. In Anbetracht der stän- digen Notwendigkeit, das demografische Niveau der menschlichen Gruppen aufrechtzuerhalten, dürften Frauen eine bedeutende soziale Rolle ge- spielt haben, die sich im Bereich der Ideologie und Symbolik widerspiegelte. Demnach idealisierten die Statuetten die Fruchtbarkeit; vielleicht standen sie in einem rituellen Kontext. Das Vorhandensein dieser Frauenstatuetten über einen Zeitraum von 20 000 Jahren und in einem Gebiet, das sich über mindestens 6500 Kilometer erstreckte, von Südfrankreich bis in den sibirischen Raum, legt nahe, dass ihre Bedeutung über einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit hinausreichte und als Tradi- tion über Jahrtausende lebendig gehalten wurde. Dies ist nur durch Kontakte zwischen verschie- denen menschlichen Gemeinschaften erklärbar. Eine Tradition, die alle natürlichen Grenzen überschreitet und die in der Vorgeschichte der Menschen unseres Kontinents ein breites und tiefes gemeinsames ideologisches Substrat her- vorgebracht hat.

Brüste, ein ausgeprägter Schambereich und eine erkennbare Vulva die grundlegenden Merkmale eines großen Teils der paläolithischen Frauensta- tuetten in Europa sind. Ihren wahren kulturellen Zweck werden wir zwar nie mit letzter Sicherheit kennen, doch die Merkmale legen nahe, dass sie symbolisch die Fähigkeit zur (und womöglich den Wunsch nach) Fortpflanzung verkörpern. Viel- leicht stellten sie eine Art sozialen Fetisch dar, da ihre Schöpfer Frauen mit ähnlichen Merkmalen wie die Statuetten als Modelle oder Fruchtbar- keitsideale betrachteten. Allerdings gibt es einige Ausnahmen oder Ab- weichungen von diesem Typus, auch abhängig von Entstehungszeit und -ort der Venusfigurinen. Vor allem aus der sibirischen Region und aus ei- ner jüngeren Entstehungszeit (vor etwa 17 000 Jahren) stammt ein etwas anderes Modell der Frauendarstellung. Die Geschlechtsmerkmale sind hier weniger ausgeprägt oder gar übertrieben

DIE HÖHLE TITO BUSTILLO Das Bild zeigt Details aus einem Teil der Höhle, der als „Camarín de las Vulvas“ (Schrein der Vulvas) bekannt ist. Er zählt zu den bemerkenswertes-

ten in der Höhle von Tito Bustillo in Ribadesella (Asturien).

Mehr erfahren

BÜCHER Die Frau von W. Die Venus von Willendorf und ihre Zeit Walpurga Antl-Weiser. Naturhistor. Museum Wien, 2008

Welt Kult-Ur-Sprung. World Origin of Culture Urgeschichtliches Museum Blaubeuren (Hrsg.). Thorbecke, 2019 Das Gravettien in Österreich. Eine Kulturstufe der Altsteinzeit Ernst Probst. Independently published, 2016

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