NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

in beispielhafter Weise ein. Schnell wurde der Roman zum Kultbuch für eine schwärmerisch veranlagte Jugend, die sich nach einer Alterna- tive zu Vernunft und Tugend, den zu jener Zeit vorherrschenden Idealen der Aufklärung, sehnte (s. Kasten S. 30). Doch diese Faszination blieb keine rein literarische, sondern führte tatsäch- lich, mehr oder weniger direkt, zu einer Reihe von Selbstmorden aus Liebeskummer, die in den Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung des

ertragen und nahm sich im Alter von 17 Jahren in seiner Mansarde mit Gift das Leben. Die vorromantische Gesellschaft der damali- gen Zeit erkannte in diesen – realen wie fiktiven – Figuren eine besondere Leidenschaft und Tiefe der Empfindungen. Man idealisierte die jungen Menschen, die in völliger Verzweiflung starben, zu wahren Gefühlshelden und sah in ihnen eige- ne Träume von Liebe, Leidenschaft und Größe verwirklicht. Goethes „Werther“ fing diese kol- lektive Sensibilität zum richtigen Zeitpunkt und

DER TOD CHATTERTONS Gemälde von Henry Wallis (1856, Tate Britain, London).

Werks dokumentiert sind. Die Selbstmordwelle

Den ersten bekannten Fall beschrieb der Schrift- steller Friedrich Nicolai – Verfasser der 1775 er- schienenen Werther-Parodie „Die Freuden des jungen Werther“ – im Januar desselben Jahres: „Ein sehr vernünftiger, aber etwas hysterischer Mensch vergiftete sich nach der Lektüre von Werthers Leiden, und noch bevor er starb, gestand er ohne Bedauern, dass das Buch ihn dazu veran- lasst habe. Weitere intime Details […] machen diese Geschichte umso ergreifender.“ Bei der fraglichen Person handelte es sich um eine junge Englände- rin, die sich in ihrem Bett umbrachte, mit Goethes Roman unter dem Kopfkissen. Der Schriftsteller

EINGRIFF DER ZENSUR

IM JANUAR 1775 verbot die Stadt Leip- zig die Veröffentlichung des „Werther“: „Es wird hier ein Buch verkauft, wel- ches den Titel führt Leiden des jungen Werthers. Diese Schrift ist eine Empfeh- lung des Selbst Mordes“, hieß es in der Begründung. Das Verbot galt bis 1825.

VERBOT durch den Stadtrat von Leipzig.

AKG / ALBUM

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