NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

ls Europa zu Beginn des 11. Jahrhun- derts aus dem langen Schlaf erwach- te, in den es nach den Invasionen der Wikinger und Muslime gefallen

Bau einer Kathedrale. Miniatur aus den „Grandes Chroniques de France“, 1494.

war, war eine der offensichtlichsten Manifestatio- nen dieses Wiederauflebens das auf dem Konti- nent ausgebrochene Baufieber. Der französische Benediktinermönch Rodulfus Glaber hat davon in seinem Geschichtswerk „Historiae“ eindrucksvoll Zeugnis abgelegt, als er zu Beginn dieses Jahrhun- derts schrieb, dass „auf fast der ganzen Erde, vor allem aber in Italien und Gallien, die alten Kirchen wieder aufgebaut wurden. Und das, obwohl die Bausubstanz der alten Gotteshäuser meist gut und fest war – es war wie ein Wettstreit, den sich die christlichen Gemeinden um das prächtigste Bauwerk lieferten. Man könnte behaupten, dass sich die Welt selbst wiedererweckte und mit einem Mantel an neuen, weißen Kirchen bedeckte. So wurden fast alle Kirchen der Bischofssitze, die Klöster, die allen möglichen Heiligen geweiht waren, und sogar die kleinen Kapellen in den Dörfern von den Gläubigen wieder und schöner aufgebaut.“ (Vgl. auch NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY 12, Romanische Kathedralen) So erklärte Glaber die Entstehung der romani- schen Kunst. Die bauliche Euphorie, die sich in der gesamten Christenheit ausbreitete, führte zu einer umfassenden Erneuerung der Bautechni- ken und der Arbeitsorganisation. Der Höhepunkt dieser Prozesse sollte von der Mitte des 12. bis zum 15. Jahrhundert in der Gotik erreicht wer- den, als Europa eine wahre architektonische und bauliche Revolution erlebte. Viele verschiedene Handwerker An der Errichtung von Kathedralen war eine Vielzahl von Arbeitern beteiligt. Bevor mit dem Bau begonnen wurde, zog ein Provisor oder Baumeister die notwendigen Gelder ein und verwaltete sie. Die Arbeiten begannen in den Steinbrüchen, wo die Steinmetze das Material brachen und aufbereiteten. Arbeiter legten die Gräben für die Fundamente an, bereiteten den Untergrund vor und legten Lager für das Mate- rial an. Maurer errichteten die Außenmauern, Zimmerleute bauten Gerüste auf und fertigten

DAS EUROPA DER GOTIK

DER GOTISCHE STIL kam Mitte des 12. Jahr- hunderts in den wohlhabenden Gegenden um Paris auf. Dort entstanden ikonische Gebäude wie die Basilika von Saint-Denis, die als erste gotische Kathedrale gilt, und diejenigen von Paris und Laon. Dieser frühgotische Stil verbreitete sich schnell im Rest Frankreichs und Europas und führte zu den immer höheren und spektakuläreren Bauten des 13. Jahrhunderts wie den Dombauten von Reims, Amiens oder Straßburg. Der neue Baustil fand seinen Weg in alle Winkel der Christenheit, insbesondere über Handels- und Pilgerrouten wie den Jakobsweg auf der Iberischen Halbinsel.

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