NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

der westsibirischen Stadt Tjumen aus dem Jahr 1909, in dem Bewohner aus dem nahen Pokrows- koje Rasputin als Menschen beschreiben, der sich „gern betrank“ und gelegentlich „kleine Diebstähle“ beging. Bis er mit knapp 30 Jahren verschwand und als veränderter Mensch zurückkehrte. Geboren am 21. Januar 1869 in Pokrowskoje, wuchs Rasputin als Sohn des Kleinbauern Jefim Ja- kowitschindiesemärmlichenDorfinWestsibirien am Rand des Ural auf, mehr als 2000 Kilometer ent- fernt von St. Petersburg, der damaligen Hauptstadt Russlands. Seine Jugend glich der vieler Zeitgenos- sen, das Leben auf dem Land war einfach und hart. Die innere Wandlung, die der Bericht aus Tjumen vermerkt hatte, scheint es tatsächlich gegeben zu haben. Als Rasputin nämlich 1897 von einer dreimo- natigen Pilgerreise zum Kloster des Heiligen Niko- laus von Werchoturje zurückkehrte, veränderte sich sein Leben. Zurück im Dorf, feierte er regelmäßig Gottesdienste und richtete dafür in seinem Haus sogar einen eigenen Andachtsraum ein. Offenbar hielt er dort gemeinsam mit Anhängern jedoch Rituale ab, die sich vom klassischen Gottesdienst der russisch-orthodoxen Kirche unterschieden. Er erwarb sich den Ruf, einer umtriebigen Sekte anzugehören, den Chlysten. Es kam zum Streit mit dem Dorfpfarrer. Offenbar widersprachen die Messen und Gesänge der offiziellen Kirche. Der Mystiker Die Chlysten glaubten, dass Christus in jedem Menschen inkarniert sein könnte. Während ih- rer nächtlichen Feiern in unterirdischen Räumen sangen und tanzten die Gläubigen; sie geißelten sich und erreichten so einen Zustand ritueller Ek- stase, der in einer orgiastischen Sitzung endete. Allerdings konnte keine der späteren kirchli- chen Untersuchungen über Grigori nachweisen, dass er tatsächlich Anhänger dieser Sekte gewesen war. Bis heute gehen die Meinungen von Histo- rikern hier auseinander. Der russische Experte Edward Radsinski geht davon aus, dass er eher aufgrund des Drucks des Zaren nicht als Chlyst identifiziert wurde. Der amerikanische Historiker

RASPUTIN mit seinen Kindern Dimitri (r.), War- wara (im Arm) und Maria 1899 auf seinem Bauernhof. Nur diese drei seiner sieben Kinder erreichten das Jugendalter.

BRIDGEMAN / ACI

H eu, Brennholz, Wodka, Pferde: Die Liste der vermeintlichen Diebesgüter desGrigoriJefimowitschRasputinist lang. Nachbarn ertappten den Bau- ersjungen angeblich sogar dabei, als er den kompletten Holzzaun um einen Heuschober stehlen wollte. Viele Erinnerungen zeichnen den später so berühmten Wunderheiler und Wander- prediger als lasterhaften jungen Mann. Doch echte Belege für grobe Verfehlungen aus seinen ersten 30 Lebensjahren als Kleinbauer existieren nicht. Die meisten Geschichten über den verdorbenen Charakter des später am Zarenhof so einfluss- reichen Mannes sind schlicht erfunden, Teil der Legendenbildung seiner Feinde, die ihn als früh schon sexbessenes Monster dämonisieren wollten. Es gibt lediglich einen Polizeibericht aus

DIE KRONE VON ZAR NIKOLAUS II. Seit Katharina der Großen (1729–1796) wurde dieses Schmuckstück bei der Krönungszere- monie der Zaren ge­ tragen. Sie überstand die Wirren der Rus- sischen Revolution und befindet sich in der Schatzkammer des Kreml in Moskau. BRIDGEMAN / ACI

CHRONOLOGIE VON SIBI­ RIEN IN DIE PALÄSTE

1869 Grigori Jefimowitsch Rasputin wird am 21.1. als Sohn einer Bauern­ familie im sibirischen Dorf Pokrowskoje geboren.

1897 Nach einer Pilgerreise zum Kloster in Werchoturje gibt Rasputin sein ausschwei­ fendes Leben auf und wid­ met sich dem Mystizismus.

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