LESEN LERNEN: RASPUTIN UND DAS STUDIUM
R ASPUTIN WAR LANGE ANALPHABET, er lernte erst spät lesen und schrei- ben. Wahrscheinlich erwarb er die- se minimale Ausbildung 1897 wäh- rend seines Pilgeraufenthalts im Kloster Werchoturje. „Ich lese viel“, sagte er nach der Rückkehr nach Pokrowskoje, und seine Fähigkeit, Texte aus der Heiligen Schrift zu zitieren, bestätigt seine Worte. Aber das war alles. Als ihn der Mönch Iliodor auf das Priesteramt vorbereiten wollte, verzwei- felte dieser: „Er lernt nichts, er ist dumm wie ein Baumstumpf“. Auch Hermogen scheiterte damit. Rasputin sagte zu ihm: „So etwas könnte ich mir nicht mal im Traum vorstellen. Um Priester zu werden, muss man hart studieren. Man muss mit viel Kon- zentration meditieren. Und das ist nichts für mich. Meine Gedanken sind wie Vögel am Himmel, sie fliegen von einem Ort zum anderen, ohne dass ich sie aufhalten kann.“ Zaren. Er machte ihn mit weiteren, bedeutenden Klerikern bekannt, darunter mit Bischof Hermo- gen und dem Mönch Iliodor. Sie sollten später zu seinen erbitterten Feinden werden. Nach Raspu- tins Tod sagte Hermogen: „Ich glaube, dass Ras- putin anfangs eine göttliche Ausstrahlung hatte. Er besaß die nötige Schärfe, um in das Innere der Menschen einzudringen, und er verstand es, Mit- gefühl zu zeigen […]. Auf diese Weise hat er mich und, zumindest zu Beginn seiner Karriere, auch andere Menschen für sich gewonnen.“ Fasziniert vom sibirischen Bauern Seine Spiritualität sowie die Protektion durch Theo- phan öffneten Rasputin die Salons der russischen Hocharistokratie. Die Großherzoginnen Militza und Anastasia von Montenegro, beide verheira- tet mit Mitgliedern der Romanow-Familie, waren fasziniert von dem sibirischen Bauern. Sie stellten Rasputin 1905 der Zarenfamilie vor, die damals bereits zurückgezogen lebte. Zar Nikolaus und seine Frau Alexandra hüteten ein schreckliches Geheimnis. Nach der Geburt der vier Töchter Olga, Tatjana, Maria und Anastasia hatte die Zarin 1904 den ersehnten Thronfolger zur Welt gebracht: Alexei. Die Freude über seine
PORTRÄT des schreibenden Rasputin. Der Wunderheiler war beinahe Analphabet; seine Handschrift war nur mit Mühe lesbar.
BRIDGEMAN / ACI
John T. Fuhrmann dagegen hält ihn nicht für einen Sektierer, Rasputin habe lediglich Elemente ihrer Praxis übernommen. Rasputin selbst veranlassten die Gerüchte über seine Mitgliedschaft bei den Chlysten, seine se- xuellen Skandale und der Spott über seine angeb- liche Heiligkeit, zunächst 1902 auf den Berg Athos zu pilgern und danach in die Stadt Kasan zu rei- sen, einem wichtigen religiösen Zentrum. Die dortigen Würdenträger, die an der Spitze einer bürokratisierten und dem Zaren verpflichteten Kirche standen, waren von Rasputin beein- druckt. Sie suchten nach genau der Authen- tizität und Einfachheit, die dieser gläubige Bauer zu verkörpern schien. Der junge Prediger behandelte die orthodoxen Hierarchen mit der gleichen Vertraut- heit wie die Menschen in seinem Hei- matdorf Pokrowskoje. Er begeisterte sie so sehr, dass sie ihn der Kirchenleitung in St. Petersburg empfahlen. Mit dem Zug und in einem Wagen der ersten Klasse traf er Ostern 1903 dort ein. Von da an sollte er nie wieder im Staub der Straßen unterwegs sein. Rasputins tiefer Glaube beeindruckte auch Archimandrit Theophan, den Beichtvater des
DAS GROSSE FEST Im Jahr 1913 schenkte Nikolaus II. Alexandra zum 300-jährigen Bestehen der Romanow-Dynastie dieses Osterei von Fabergé aus Gold und
Diamanten. BRIDGEMAN / ACI
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