NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

MITTELALTER MI NNE SANG

Starke Ritter und keusche Frauen Das Ideal der höfischen, entsagungsvollen Liebe verbreitete sich von Frankreich aus in ganz Europa. Im deutschsprachigen Raum ist eine einzigartige Liedersammlung erhalten, in der sich alles um die „Hohe Minne“ dreht.

L iebe kennt keine Grenzen, sie ignoriert alle Regeln. Doch diese vermeintliche Privatangelegenheit war zur Zeit der Trou- badoure – und Minnesänger im deutsch- sprachigen Raum – stark von der herr- schenden Ordnung abhängig. Meist bedurfte es der Erlaubnis Dritter, um etwa eine Familie gründen zu können. Warum hatte der Adel im Hochmittelal- ter plötzlich so viel Freude daran, die Geschichten von unglücklich Liebenden zu hören, die sich nach Frauen verzehren? Warum verbreitete sich dieses Motiv von Südfrankreich aus in ganz Europa? Das ist Gegenstand umfangreicher Forschung. Auch die Frage, inwieweit die französischen Troubadoure Dichter im deutschsprachigen Raum beeinfluss- ten, ist nicht restlos geklärt. Klar ist: Ein gewisser Einfluss ist unverkennbar. Der neue Minnesang nach provenzalischem Vorbild blühte im Westen des Reichs um 1170 auf; bereits ab etwa 1155 kann man von einem Minnesang auf Mittelhochdeutsch

Mehrstrophige Lieder entstanden, die das Ideal der Hohen Minne priesen – samt Verzicht des Mannes. Walther von der Vogelweide ging einen Schritt weiter und besang die gleichberechtigte Liebe, später „Niedere Minne“ oder „Herzeliebe“ genannt. Ab 1220 findet man selbstironische oder parodierende Texte: So machte sich etwa der um 1230 geborene Dichter Tannhäuser über die erns- te Minnedichtung lustig. Seine Texte finden sich in der Großen Heidelberger Liederhandschrift („Codex Manesse“), die einst im Raum Zürich entstand, mittlerweile aber – wie auch die Kleine Liederhandschrift – in der Universitätsbibliothek in Heidelberg verwahrt wird. Mit Richard Wagners Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ hat der historische Dichter Tannhäuser wohl nur den Namen gemein. Das Werk vermischt thematisch die Volksballade „Tannhauser“ und die mittelhochdeutsche Ge- dichtsammlung vom Sängerkrieg auf der Wartburg, beide entstanden im 13. Jahrhundert. Zwar gibt es auch hier eine Liebesgeschichte; zugleich werden brisante Glaubensfragen thematisiert, wie die Fra- ge nach dem Recht des Einzelnen, Erlösung nicht durch die Autorität des Papstes, sondern direkt bei Gott zu erlangen. Etwa 300 Jahre später sollte der Streit darum in der Reformation gipfeln. Gebina Doenecke

sprechen. Dies war zugleich der erste Versuch, die unterschiedlichen Dialekte zu einer deutschen Lite- ratursprache zu vereinheitlichen.

Tannhäuser, auch der Tanhuser genannt, war ein wandernder Berufsdichter.

TANNHÄUSER. BILD DES DICHTERS IN DER LIEDERHANDSCHRIFT „CODEX MANESSE“

TIMEWATCH IMAGES / ALAMY

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