EIN AFRIKANISCHES SCHÖNHEITSIDEAL?
40 000 Jahre alt, ungefähr sieben Zentimeter groß und weist die charakteristischen übertriebenen Geschlechtsmerkmale auf. Die jüngsten Figuri- nen stammen aus der Zeit vor etwa 17 000 Jahren. Die überwiegende Zahl der Funde in West- und Mitteleuropa stammt aus dem Zeitraum vor 30 000 bis 24 000 Jahren, wobei die Figuren aus dem heute russischen Raum tendenziell jüngeren Datums sind. Die meisten tragen keine individu- ellen Gesichtszüge – zu den wenigen Ausnahmen zählt das Köpfchen der „Dame mit der Haube“, ein Fragment, das mit weiteren Statuetten im französischen Brassempouy gefunden wurde. Alle Funde zeichnen sich durch die Nacktheit der weiblichen Figuren aus. In wenigen Fällen sind schmückende Elemente wie Halsketten, Kopfbedeckungen, Gürtel oder Armbänder vor- handen, nicht aber Kleidung, die den Körper verhüllt. Ein besonderes Interesse scheint der Darstellung von Brüsten, Bauch, Scham, Ge- säß gegolten zu haben – diese anatomischen Details sind in vielen Fällen auffallend wulstig gearbeitet. Wiederum einen Sonderfall stellen viele der im sibirischen Raum gefundenen Figu- rinen dar: Sie sind schlanker, feingliedriger und scheinen häufig einen Perlenschmuck zu tragen. Allen gemeinsam ist das offenkundige Interesse der Künstler daran, die primären Geschlechts- merkmale, Brüste und Scham, herauszuarbeiten. Weibliche Sexualität Ein Detail, das das Interesse an der weiblichen Sexualität und insbesondere den Genitalien noch stärker zum Ausdruck bringt, ist die Darstellung des Scheideneingangs. Bei einer stehenden Frau ist dieser Teil ihrer Anatomie, der sich im unteren Schambereich befindet, kaum sichtbar. Auf einigen paläolithischen Statuetten ist der Scheideneingang jedoch in Form einer langen Linie dargestellt – manche der kleinen Skulpturen zeigen Frauen also aus zwei Blickwinkeln. Die Künstler legten anscheinend nicht nur Wert auf dieses Detail der Anatomie, sondern auch darauf, dass ein Betrach- ter diese Region bemerkte. Wenn wir annehmen, dass prähistorische Kunst ebenso wie die heutige eine universelle Form der visuellen Kommunikation darstell- te, so liegt nahe, dass die Hauptbotschaft, die die Frauenfiguren vermitteln sollten, mit der Genitalregion verknüpft ist. Auffallend ist die Körperfülle der meisten Figuren. Der französi- sche Gynäkologe und Anthropologe Jean-Pierre
IM DEUTSCHEN wurde der Begriff der „Steatopygie“ zur Zeit des Kolonialismus geprägt. Man wandte ihn vor allem auf Frauen mit ausgeprägten Fettdepots im Gesäßbereich an. Der Begriff der sogenannten „steatopygischen Venus“ bezog sich auf weibliche Angehörige der Khoikhoi („Hottentotten“), einer teils nomadisch lebenden Volksgruppe in Afrika. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden einige An- gehörige dieser Völker in Europa ausgestellt, unter ihnen Sarah Baartman. Sie trat auf Messen und in sogenannten Menschenschauen auf; ihr Skelett sowie ein Abguss ihres Körpers waren bis in die 1970er-Jahre im Musée de l’Homme in Paris zu sehen. So wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer fast ausschließlich von Männern betriebenen Archäologie behauptet, dass Frauen dieses Typs in ihren Herkunftsdörfern als Schönheits ideal galten. Aufgrund der großen Ähnlichkeit dieser körperlichen Merkmale mit denen vie- ler Venusstatuetten wurde die – inzwischen nicht mehr gebräuchliche – Theorie aufgestellt, dass die- se Steinzeitfigurinen den Prototyp der schönen Frau unter den ersten Homo sapiens wiedergeben.
SARAH BAARTMAN. DER STICH ERSCHIEN IN EINEM WERK DER NATURFORSCHER ÉTIENNE GEOFFROY SAINT-HILAIRE UND GEORGES CUVIER (1815).
CPA MEDIA / ALAMY / ACI
Lehm oder Ton modellierte, teilweise gebrannte Exemplare. Die meisten zeichnen sich durch stark ausgeprägte weibliche Merkmale aus, sie haben riesige Brüste und eine ausgepräg- te Bauch- und Gesäßregion; meist fehlen die Gesichtszüge. Rund 200 Exemplare sind bekannt. Die meisten Fundorte ver- teilen sich über West- und Mitteleuropa. Sie liegen vor allem in den Pyrenäen und im Südwesten Frankreichs, in Italien sowie im Rhein- und Donaubecken. Auch in der Ukraine und in Russland gab es Funde, dort vor allem im Süden der Region und in Sibirien. Die Entstehung der Venusfigurinen erstreckt sich über einen langen Zeitraum: Der älteste Fund, die sogenannte „Venus vom Hohle Fels“, ist etwa
DAME MIT DER HAUBE aus Brassempouy, Frankreich. Fragment einer Elfenbeinstatuette, 3,5 Zentimeter (Musée Nationale d’Archéologie, Saint-Germain-en-Laye).
96 NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY
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