Touren & Regionen ∕ Dolomiten
A ls der englische Historiker und Bergsteiger Leslie Ste- phen – übrigens der Vater der Schriftstellerin Virginia Woolf – 1870 die Pala-Grup- pe erkundete, schrieb er etwas umständlich im Duktus der damaligen Zeit in sein Notiz- buch: »Ich bin geneigt zu glauben, und ma- che mir kein Gewissen daraus glühend zu hoffen, dass diese Berge unüberwindlich bleiben mögen.« Insgeheim wusste er wohl, dass dies ein ebenso frommer wie naiver Wunsch war. Er selbst hatte ja vorherge- sagt, dass die Alpen einmal der »Play- ground of Europe« sein würden. Und er stieg höchstpersönlich zwei Pala-Zacken aufs Haupt. In der Folgezeit verloren sämt- liche Gipfel der südlichsten Dolomiten-Bas- tion ihre Unschuld, bei Alpinisten avancier- te die Pala zur Kletter-Destination par excellence. Heute noch ein Klassiker ist der 1950 von Hermann Buhl erstmals durch- stiegene Buhl-Riss in der Westwand der Cima Canali. Später schrieb Maurizio Za- nolla, genannt Manolo, an den Felswänden um die Pradidali-Hütte Geschichte und kletterte als erster Italiener den achten, neunten und dann zehnten Grad. Schroff, wild und geheimnisvoll Als gewöhnlicher Klettersteiggeher kommt man sich da ziemlich klein vor. Vor allem dann, wenn man sich der Gruppo delle Pa- le vom Rollepass und San Martino di Cas- trozza aus nähert. In der Abenddämme- rung erröten die Türme und Zinnen wie ein junges Liebespaar. Sie geben der größten Hochebene der Dolomiten, dem Altopiano delle Pale, einen würdigen Rahmen. Über 50 Quadratkilometer dehnt sich diese Steinwüste aus: schroff, wild, geheimnisvoll, oft von Nebelschwaden vor neugierigen Blicken geschützt. Fabio Testa liebt dieses Panorama. Der Bergführer stammt aus Lazio und lebte zwölf Jahre in Courmayeur am Fuße des Mont Blanc. Aber seine große Passion ist eben doch die Pala. Hier ist er sesshaft ge- worden. Hier hat er die großen Klassiker durchstiegen. Dass er dieses Jahr 60 wird, sieht man dem drahtigen Kerlchen nicht an. Von der Statur ähnelt er seinem Vorbild Manolo, der bereits 67 ist und ebenfalls unten in Feltre lebt. Kann ein Aficionado der Vertikalen wie Fabio Spaß an einem Eisenweg finden? Wir haben da Zweifel. Ferratisti, diese sich rasch vermehrende Sub-Spezies des Homo
Von der Cima di Val Roda genießt man fantastische Ausblicke auf die Wände und Türme der Pala.
09/25 BERGSTEIGER 55
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