Bergsteiger

Wissen & Personen ∕ Interview ∕ Jochen Hemmleb

Der Mann und der Berg

Seit gut 40 Jahren befasst sich Everest-Experte Jochen Hemmleb mit dem Rätsel um Mallory und Irvine. Inzwischen ist er längst selbst Teil der Geschichte geworden.

Interview: Tom Englram

B eim dritten und letzten Bestei- gungsversuch der britischen Mount-Everest-Expedition 1924 verschwanden die Berg- steiger George Mallory und

irgendeine Weise bis hinunter auf den Gletscher gelangt ist. Es ist naheliegend, dass er abgestürzt ist. Aber andere Mög- lichkeiten gibt es auch: Er könnte für eine gewisse Zeit oben in der Wand gelegen haben und dann von einer Lawine mitge- rissen worden sein. Oder andere Bergstei- ger haben ihn aus dem Weg geräumt – auch das kann passiert sein. Sie befassen sich seit fast 40 Jahren mit dem Fall. Ihre Faszination begann mit einem ganz konkreten Moment.

Andrew Irvine im Gipfelbereich des höchs- ten Bergs der Erde. Bis heute wird heftig darüber spekuliert, ob sie damals – 29 Jahre vor Edmund Hillary und Tenzing Norgay – bereits den Gipfel erreicht hatten. Die Leiche Mallorys wurde 1999 gefunden, konnte aber keinen Aufschluss über das Rätsel geben. Jochen Hemmleb beschäftigt sich wie kaum ein anderer mit dieser Geschichte, initiierte Suchexpeditionen und schrieb zahlreiche Bücher. BERGSTEIGER: 2024 wurde der Schuh von Andrew Irvine am Mount Everest gefunden. Was verrät uns der Fund über eine mögliche Erstbesteigung schon im Jahr 1924? JOCHEN HEMMLEB: Auf emotionaler Ebene finde ich den Fund bahnbrechend. Wir wissen jetzt, wo sich die Überreste von Irvine befinden. Er ist nicht länger der Verschollene, der zudem immer im Schatten von Mallory gestanden hat. Er ist jetzt auf Augenhöhe. Aber? In Bezug auf die Lösung des Rätsels bringt uns der Fund nicht wirklich weiter. Wir wissen jetzt zwar, dass Irvines Körper auf

Früher alpiner Glücksmoment: Hemmleb 1990 auf dem Gipfel des Mont Blanc

Zu Weihnachten 1987 haben mir meine Eltern ein Buch über diese Geschichte geschenkt. Ich habe es verschlungen. Am 27. Dezember saß ich vormittags auf meinem Zimmer, habe das Buch zugemacht und hatte von einem Moment auf den anderen die völlige Überzeugung: Diese Geschichte macht etwas mit mir. Was bringt einen Menschen dazu, sich so lange mit einem Thema auseinanderzusetzen? Je länger es sich hinzieht, desto weniger kann ich es rational begründen. Ich war 16 Jahre alt, als ich die Geschichte gelesen habe. Sie hat seitdem mein Leben geprägt. Diesen Leitfaden habe ich bis heute nicht verloren. Ich möchte ihn auch nicht verlieren. Er gab und gibt meinem Leben eine Richtung. Und: Es macht extrem Spaß.

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