Wissen & Personen ∕ Interview ∕ Jochen Hemmleb
Die Geschichte ist inzwischen zu einem Mythos geworden. Es gibt Autoren, die immer noch gerne geheimnisvoll tun, obwohl wir bestimmte Dinge schon längst genau wissen und belegen können. Und was manche immer noch als Rätsel verkaufen, ist schon lange keins mehr. Die Geschichte ist nicht so kompliziert, wie sie oft gemacht wird. Sie ist aber auch nicht so einfach, wie sie manchmal gemacht wird. Also waren Mallory und Irvine auf dem Gipfel? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ganz oben waren, halte ich für gering. Ich halte sie nicht für komplett unmöglich, aber für sehr gering. Ist es überhaupt wichtig? Man kann philosophisch sagen: Nein, weil die Leistung und der Pioniergeist der beiden so oder so unbestreitbar sind. Aber natürlich muss man auch sagen: Der Gipfel ist ein so magischer Punkt und es wäre einfach faszinierend, wenn sie wirklich oben gewesen wären. Wir wissen aber so gut wie nichts, was oberhalb von 8500 Metern mit den beiden passiert ist. Wir wissen nicht, wie hoch sie gekommen sind. Und genau das interessiert mich nach wie vor sehr. Wie könnte man Licht ins Dunkel bringen? Mit einem Ausrüstungsgegenstand, der sich eindeutig den beiden zuordnen lässt und der höher als die bisher gefundenen Spuren liegt. Was ist mit der Kamera? Da habe ich wenig Hoffnung. Mallory hatte sie definitiv nicht mehr bei sich und Irvine ist nun unten auf dem Gletscher. Ob da eine Kamera überhaupt noch auffindbar, geschweige denn ver- wertbar ist — das ist eher unwahrscheinlich. Sie haben sich viele Jahre mit Irvine und Mallory beschäftigt. Wie nahe sind Sie den beiden Männern gekommen? Wie viel bleibt Projektion? Teilweise kommt man ihnen schon sehr nahe. Ich habe es erst vor Kurzem erlebt. Das Tagebuch von Irvine kannte ich schon. Ich »Die Geschichte ist nicht so kompliziert, aber auch nicht so einfach, wie sie manchmal gemacht wird.«
habe Fotos gesehen, es gibt Abschriften, inzwischen ist es digitali- siert. Der Inhalt ist längst bekannt. Es aber selbst in den Händen zu halten und diese letzte Seite, die nur halb gefüllt ist, zu sehen, das ist beeindruckend. Die emotionale Nähe, die hier entsteht, ist ergreifend. Muss man historische Analyse und Emotion nicht trennen? Es gibt da bei mir ein Interesse an der Geschichte, das aus eigener Erfahrung herrührt. Weil man merkt, dass die Protagonisten, mit denen man sich auseinandersetzt, auch nicht unbedingt das aalglatte Leben hatten. Natürlich würde ich deshalb nie meinen, mit der Stimme von Mallory oder Irvine sprechen zu können. Da bin ich dann doch nur der Beobachter, der Analytiker, der Histori- ker. Trotzdem lasse ich mich emotional berühren. Das ist auch wichtig. Herzblut treibt an. Man braucht schon etwas, das tiefer geht als nur historisches Interesse. Fühlen Sie sich einem der beiden näher? Spontan fühle ich mich Andrew Irvine etwas näher. Ich glaube, dass Mallory als Person distanzierter war. Er stimuliert mich zwar intellektuell. Ich mag seine Texte sehr, seine Auseinandersetzun- gen mit dem Bergsteigen und seinen Ansatz, das Bergsteigen als Kunstform, den Bergsteiger als Künstler zu sehen. Das finde ich spannend, das berührt mich. Aber ich glaube, dass er als Person schwerer erreichbar war. Mit Irvine dagegen hätte man locker mal ein Bier trinken können. Was treibt Sie an? Wenn man es herunterbricht, ist es für mich Lebenslust. Sowohl was diese Geschichte betrifft als auch das Bergsteigen. Für mich ist Bergsteigen intensives Leben. Ich habe diese Intensität in einer gewissen Phase meines Lebens extrem gebraucht. Es wäre schlimm gewesen, wenn ich die Berge in dieser Zeit nicht gehabt hätte. Dann weiß ich nicht, ob ich jetzt hier sitzen würde. Die Lust an einem intensiven Leben, das mich geistig wie körperlich fordert, bewegt, antreibt — das ist meine Motivation.
Tom Englram verzweifelt derzeit am Erlernen der nepalesischen Sprache. Nach dem Gespräch mit Jochen Hemmleb über die Everest-Region ist er wieder deutlich motivierter.
09/25 BERGSTEIGER 73
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