Vergessen von der Welt?
Was mich für die Arbeit in fragilen Kon- texten antreibt «Ihr wollt wirklich in die Region, in der sich die Christen ge- genseitig die Köpfe einschlagen?» , fragte uns der Immigrati- ons-Beamte am Flughafen von N‘Djaména. Meine Frau Ire- ne und ich reisten mit unserem damals sechs Monate alten Sohn für unseren ersten Langzeiteinsatz in den Tschad ein. Und tatsächlich, als wir nach dem dreimonatigen Intensiv- Sprachstudium von der Hauptstadt in «unser» Dorf umzo- gen, zeugte ein Einschussloch in der Wand des Kinderzimmers
von den kürzlichen Kämp- fen. Glücklicherweise fan- den bald darauf Versöh- nungsgespräche statt und zwischen den Dörfern wur- de ein Friedensvertrag un- terschrieben. Nun bin ich seit zehn Jah- ren bei SAM global verant- wortlich für den Tschad, für Kamerun und Burkina Faso. In keinem dieser Ein- satzgebiete können wir von
Ich persönlich habe den Anspruch verloren, die Welt retten zu können bzw. zu wollen. Hingegen bin ich überzeugt, dass ich in meinem Umfeld Menschen direkt beeinflussen kann.
So haben wir in «unserem» Dorf den Lernen- den Werte wie Ehrlichkeit und Transparenz vermittelt und sie gelehrt, Kunden offen zu be-
«verbesserter Sicherheitslage» oder «erfolgreichen Friedens- kampagnen» berichten. Im Gegenteil: In Burkina Faso hat sich in dieser Zeit die Lage drastisch verschlechtert. Die Über- griffe der Boko Haram im Hohen Norden von Kamerun neh- men wieder zu und im Tschad bekämpfen sich seit Jahrzehn- ten Hirten (Nomaden) und ansässige Bauern bis aufs Blut. Das von der internationalen Gemeinschaft angestrebte nach- haltige Entwicklungsziel «Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen» (SDG 16) wird meiner Einschätzung nach bis 2030 kaum erreicht werden. Die meisten Indikatoren gehen gemäss dem zweiten globalen Zwischenbericht zu den Ent- wicklungszielen deutlich in die falsche Richtung. Beispiels- weise stiegen weltweit konfliktbedingte zivile Todesfälle 2023 um 72% im Vergleich zu 2022. Negativtrends werden auch in den Bereichen Kinderhandel, Zugang zu Justiz, Korrup- tion in Privat- und Geschäftswelt oder im freien Journalis- mus verzeichnet. Global oder auch regional gesehen scheint die Menschheit aus der (Entwicklungs-)Geschichte leider nichts zu lernen. Im zweiten Buch Mose lesen wir, dass Gottes (temporärer) Lösungsansatz darin bestand, seinem rebellischen Volk in der Wüste zehn Gebote als Wegweisung zu geben, welche friedvolle Beziehungen untereinander und mit dem Schöp- fer versprachen. Ich persönlich habe den Anspruch verloren, die Welt retten zu können bzw. zu wollen. Hingegen bin ich überzeugt, dass ich in meinem Umfeld Menschen direkt be- einflussen kann.
raten, Kosten fair zu verrechnen und Arbeiten pünktlich aus- zuliefern. Abends haben wir mit Gruppen von Jugendlichen über Liebe, Annahme und Vergebung gesprochen. Viele von ihnen haben in der Familie, im Beruf und in der Ge- sellschaft Verantwortung übernommen und ihr Umfeld posi- tiv geprägt. So haben wir doch zur Erreichung des genann- ten Entwicklungsziels beigetragen. Ich behaupte nicht, dass Christen friedvoller zusammenleben als andere. Aber könn- te es sein, dass Menschen, die persönlich Gottes Gnade und die Vergebung durch das Opfer von Jesus erfahren haben, leichter ihrem Nächsten vergeben können oder eher bereit sind, die zweite Meile mit ihm zu gehen? Ich glaube: Wirk- lich nachhaltigen Frieden gibt es nur, wenn tatsächlich das Gemeinsame, das «Wir», und nicht mehr das «Ich» im Zen- trum steht – und der ultimative Frieden, den wir ersehnen, wird erst mit der Wiederkunft Jesu möglich werden.
Andreas Zurbrügg ist Mitglied der Geschäftsleitung von SAM global und verantwortlich für die Sahel-Län- der. Andreas koordiniert Projekte und kom- muniziert mit Partnern im Tschad, in Kame- run, Burkina Faso und in Sri Lanka. Auch kümmert er sich um das Qualitäts- und Risi- komanagement.
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