STANDPUNKT
nur noch im ländlichen Raum ein Grundstück leisten. Dafür macht man dann auch gern Kompromisse. Das Per- sönliche, das sich Untereinanderkennen, wiegt sicherlich manches Defizit in der Infrastruktur auf. Carstensen: Das Landleben hat sich natürlich auch verändert. Den Bauern- hof mitten im Dorf finden Sie heute immer seltener. Das ist ja alles nicht mehr vorhanden. Insofern kann ich mir aber den Wunsch vieler Städter vorstellen, aus der Hektik herauszukom- men, um mal richtig durchzuatmen. Das Erleben von natürlicher Umgebung ist ja auch eine Leistung, die der ländliche Raum für die Städte und ihre Menschen erbringt. Midyatli: Ich war im letzten Jahr mit dem Begleitbeirat „Unser Dorf soll schöner werden“ von Nordfriesland bis in den Kreis Herzogtum Lauenburg unterwegs. Es war toll zu sehen, dass die Menschen sich dort den neuen Gegebenheiten durchaus anpassen. Auch dem demographischen Wandel. Wenn man sich rechtzeitig auf den Weg macht und sich der Entwicklung nicht verschließt, wird Leben auf dem Land immer attraktiv bleiben. Carstensen: Das ist ein Grund dafür, weswegen es notwendig ist, Baugebiete für die Dörfer nicht zu vergessen. Gibt es denn eigentlich noch echte Dorfgemeinschaften im klassischen Sinne? Eine ländliche Romantik? Es gibt dazu meter- weise Periodika in den Zeit- schriftenregalen wie LandLust, LandGang, LandLeben usw. Hier greift Carstensen ein: Herr Sindt, das ist genau das, was man sich viel- leicht so unbefangen vorstellt. Diese
Carstensen: Das ist auch der Unter- schied zur Stadt. In der Stadt wird konsumiert und weniger mitgemacht im Sinne einer aktiven Beteiligung am Gemeinschaftsleben. Wird das Leben auf dem Land aber nicht auch unverbindlicher. So, wie vieles in unserer Gesell- schaft? Carstensen: Das „Sich-gegenseitig- helfen“, ist sicher weniger geworden. Schleswig-Holstein hat sich auch in seinen ländlichen Strukturen verändert. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich nach dem Krieg aufgrund der Heimatver- triebenen. Aber es haben sich auch die sozialen und soziologischen Strukturen verändert. Wo haben Sie auf dem Land denn noch ausreichend Arbeitsplätze? Keiner will noch beim Bauern als Knecht arbeiten. Fast alle müssen zur Arbeit in die Stadt fahren. Dort treffen sie auf ein völlig anderes Umfeld, das sich auf ihr
Romantik. Das ist keine Romantik. War es nie, weil es immer für die Dörfer für die jeweilige Zeit ein ganz normales Leben war und ist. Karl Marx hat einmal gesagt: „Das Sein bestimmt das Be- wusstsein“. Die dort Geborenen haben sicherlich ein anderes Sein und damit auch ein anderes Bewusstsein. Für die ist es nicht romantisch, sondern einfach natürlich. Midyatli: Es gibt natürlich Dörfer, so eines habe ich auch kennen gelernt, die haben eigentlich gar nichts mehr. Die knapp 750 Einwohner müssen für alles woanders hin, von der Arbeit bis eben zum Einkauf. Was mich in einem Fall beeindruckt hatte, war, dass aus einer privaten Initiative heraus alle zwei Jahre ein Rockkonzert veranstaltet wird. Da macht das ganze Dorf mit und 2000 Leute kommen dahin. Das zeigt doch, wie intakt eine solche Gemeinschaft sein kann.
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