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übersehen nicht neben dem Tod das Leben. Wir anerkennen zwei Grundtriebe und lassen jedem sein eigenes Ziel“ (S. 115). Laut Otero macht das Festhalten an den Konzepten von Lebens- und Todestrieb als Säulen der psychoanalytischen Theorie die Komplexität der Grenzen und mannigfaltigen Blickwinkel deutlich, unter denen menschliche Phänomene theoretisiert werden können. Für die psychoanalytische Praxis und Methode hat dies weitreichende Implikationen. VI. Fc. Carlos de la Puente Carlos de la Puente (2011) greift in “Deseo, existencialismo y psicoanálisis. Senderos que se bifurcan y que convergen” [Begehren, Existentialismus und Psychoanalyse. Wege, die sich teilen und aufeinandertreffen] Sartres Theorie auf, dass das Verlangen nach einer anderen Person nicht als eine psychobiologische Kraft auftaucht, sondern als Resultat des Wunsches, die Subjektivität des/der Anderen zu besitzen – seine/ihre Wüsche, Phantasien, die zahlreichen Möglichkeiten, die ihm/ihr als Mensch offenstehen – und sich seine/ihre Freiheit und Entwicklungsfähigkeit einzuverleiben. Das Problem des Begehrens besteht Sartre zufolge darin, dass die Verantwortung, die Menschen auch in ihrem Begehren haben, ignoriert wird, wenn man es auf den Trieb reduziert. In seiner eher veralteten Auffassung des Freud’schen Werks konzentriert Sartre seine Kritik auf ein „mechanistisches Verständnis“ des Begehrens, das es auf den Trieb reduziert. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, vergisst die Psychoanalyse, dass Begehren auch das Resultat einer Entscheidung ist. Die existentialistische Kritik des Triebkonzepts stellt ab Mitte des 20. Jahrhundert den Trieb als eine psychobiologische Kraft, die irgendwie psychisch gespeichert wird, infrage. Sartre und Merleau-Ponty widersprechen der Auffassung, dass die Essenz des Begehrens eine unpersönliche biologische Kraft – wie ein Trieb – sei, ebenso wie der Annahme, dass der Trieb abgelöst von dem, worauf er sich richtet, existieren könne. Wittgenstein betonte, dass man über den Geist nur sprechen könne, wenn man ihn nicht als eine mysteriöse, von persönlichen Umständen konzeptuell unabhängige Entität verstehe. In ähnlicher Weise kann man das Begehren nicht sehen oder eine Ahnung von ihm haben, ohne gleichzeitig wahrzunehmen, was begehrt wird. Am allerwenigsten kann man „Impulse“ oder „Triebe“ als Entitäten betrachten, die konzeptuell unabhängig sind von den Kontexten, in denen sie existieren. Als psychoanalytische Triebtheoretiker, die Sartres und Merleau- Pontys philosophischer Sicht nahekommen, nennt De la Puente neben Fairbairn auch Kernberg, Lorenzer, Winnicott, Loewald und Marcia Cavell. Kernberg beschreibt, dass Affektzustände, repräsentiert durch eine Selbst- und eine Objektrepräsentanz, Impulse aktivieren. Ein Impuls kann demnach nur im Rahmen eines intersubjektiven Dramas repräsentiert werden – eine Sichtweise, die mit Sartres und Merleau-Pontys Auffassung übereinstimmt, dass der „Impuls“ konzeptuell weder von Interaktionen noch von den Beziehungen zwischen Menschen zu unterscheiden ist. De la Puente identifiziert ein
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