Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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verhindert habe“ (Breuer und Freud 1893-1895, S. 268). Ebenso wie ihr Pendant, die aufwärts strebende Kraft des abgewiesenen pathogenen Materials, war diese Widerstandskraft zu einem gewissen Grad fassbar als Erinnerungen, die in „Schichten“ rund um den „pathogenen Kern“ angeordnet sind (ebd., S. 291f.). Darüber hinaus wurde die Vorstellung gerade durch ihre Verdrängung pathogen, das heißt zur Ursache morbider Symptome (ebd., S. 288). Um von Dauer zu sein, bedarf die Verdrängung eines ständigen psychischen Kraftaufwandes. Symptome sind das Ergebnis einer gescheiterten Verdrängung, also der Wiederkehr des Verdrängten. Gleichzeitig wird der Affekt, welcher der verdrängten Vorstellung „entrissen“ wurde, für eine „somatische Innervation“ (ebd., S. 288) verwendet, die dann durch hysterische Konversion als körperliches Symptom manifest wird. Die innovative psychoanalytische Methode der freien Assoziation ging aus der Erkenntnis hervor, dass es „ ganz aussichtslos “ ist, „ direkt zum Kerne der pathogenen Organisation vorzudringen “ (ebd., S. 296), weil sich die inneren Schichten dieser pathogenen Organisation dem Ich mehr und mehr entfremden (ebd., S. 294f.). Nicht alle Erfahrungen aus der frühen Kindheit werden verdrängt. Der Freud’schen Theorie zufolge besteht der Inhalt des Unbewussten aus fixierten, von der infantilen Sexualität geprägten Kindheitswünschen. Aus Freuds Briefen an Wilhelm Fließ (Freud 1985 [1887-1904]) wissen wir, dass er in dieser frühen Phase seine unter dem Namen Verführungstheorie bekannte Sichtweise entwickelte: Das Kind wird von einer erwachsenen Person verführt, und diese Erfahrung hinterlässt verstörende Spuren, die später, verschoben und entstellt durch Kräfte, die ihrer Bewusstwerdung entgegenwirken, ins Bewusstsein aufsteigen. Die Verführungstheorie war im Wesentlichen eine Theorie des pathogenen prä-adulten sexuellen Traumas als exklusive Determinante der späteren Psychopathologie. Die traumatische Kindheitserfahrung kann vergessen, dissoziiert oder verdrängt werden; in der Adoleszenz, nach der Pubertät, erfährt sie jedoch eine Reaktivierung oder beginnt, einen verzögerten traumatischen Einfluss auszuüben. Ein überdauerndes Erbe des dynamischen Aspekts des Unbewussten ist das Konzept der in dynamischem Widerstreit stehenden Kräfte, die neue psychische Formationen entstehen lassen. 1893- 1895 sprach Freud von der Gegensätzlichkeit der mit traumatischen Ereignissen und den moralischen Vorschriften der Gesellschaft verbundenen Affekte. Als seine Selbstanalyse in den Jahren zwischen 1895 und 1900 Fortschritte machte, sah er sich veranlasst, die gegenläufigen Kräfte mehr und mehr im Innern zu verorten. In diese Zeit begann er, seine erste Konzeption des psychischen Apparates zu formulieren, indem er die ihn organisierenden, in dynamischem Widerstreit liegenden Kräfte beschrieb, nämlich den unbewussten Wunsch und das realitätsorientierte Verbot. In jener Phase, in der Freud die Theorie des Unbewussten noch nicht systematisiert hatte, spekulierte er mit der Idee, dass psychisches Material von Zeit zu Zeit eine Umordnung oder Umschrift erfahre. In einem Brief an Fließ berichtet er dem Freund am 6. Dezember 1896, er arbeite mit der Annahme, dass „ unser psychischer Mechanismus “ durch diese Umordnung der Erinnerungsspuren entstanden sei (Freud

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