Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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VI. Hb. Ronis Magdaleno Ronis Magdaleno vertritt in “Melhor seria não haver nascido?” [“Better not to have been born?”] (2018) und in “O objeto estético e a desnaturalização criativa do ser: reflexões sobre a inconfidência humana ” [“The esthetic object and the creative denaturing of the being: Reflections on human mistrust”] (2019) die Ansicht, dass Freuds Postulat eines Konflikts zwischen Lebenstrieben und Todestrieb ein konzeptuelles Problem mit sich bringt, wenn er den Konflikt zwischen Lebenstrieb und Todestrieb im Kontext der psychischen Ökonomie formuliert. Magdaleno zufolge zeigt Lacan eine neue Möglichkeit auf, den Stellenwert des Todes in der klinischen Arbeit und in der Übertragung zu verstehen, indem er ein kulturell sensibles Modell eines wie die Sprache strukturierten Unbewussten postuliert. Der Tod, so postuliert Magdaleno in Anlehnung an Lacan, steht in der Psychoanalyse dem Wort und dem Wissen entgegen, weil er ein von Schweigen erfülltes Zentrum konstituiert, dem das Leben Widerstand leistet. Die Artikulation eines solchen Konflikts erfordert ein hohes Maß an Leben, Konstruktion und Symbolisierung; daraus geht man nicht unbeschädigt, aber humanisiert hervor (Freud 1920g). Am Anfang war der Tod, darauf folgt die Illusion von Integrität und Einheit der Dinge, die erst nach und nach zerbricht. Dann erst kann die Psyche zaghaft beginnen, die Anforderungen der Realität zur Kenntnis zu nehmen, die pari passu mit dem Ich aus Tod, verlassenen und verlorenen libidinösen Besetzungen aufgebaut wird. Im Schlaf kehrt die Essenz des menschlichen Begehrens in einen ursprünglichen Zustand der Nichtexistenz mit einem Dilemma zwischen Geborenwerden und Nicht-Geborenwerden zurück. In diesem Zustand könnte es möglich sein, einen undenkbaren Urzustand wiederherzustellen, in dem das Wort die Säuglinge noch nicht von der Illusion der Einheit, der Zugehörigkeit zum Schweigen der Sterne, der Einheit des allgegenwärtigen Körpers des Schöpfers getrennt hat. Magdaleno betont, dass sich ein sehr kompliziertes psychoanalytisches Problem ergibt, wenn man den Todestrieb als etwas Körperliches versteht – im Gegensatz zu dem als i.W. psychisch verstandenen Lebenstrieb –, weil damit multiple Felder der Abtrennungen und gleichzeitigen Bewegungen in Richtung eines einheitlichen Feldes des Begehrens einhergehen. An diesem Punkt ergibt sich laut Magdaleno auch bei Lacan (20115 [1978]) ein Problem, indem dieser Begehren und Tod potentiell in eins setzt, wenn er schreibt: „Das Begehren ist eine Beziehung des Seins zum Mangel. […] Das Begehren, die zentrale Funktion für jede menschliche Erfahrung, ist Begehren nach nichts Benennbarem.“ (S. 283f.) In diesem konzeptuellen Bezugsrahmen, so behauptet Magdaleno, steht hinter allem, was der Mensch benennt, steht der unaussprechliche Mangel, das Unaussprechliche par excellence, das heißt der Tod. Der primitive Vater, Subjekt des Handelns, nicht der Worte, wird zu einem konstitutiven Erwerb des sprechenden Seins, eine Determinante der Tendenz, die Freud als Todestrieb bezeichnete. Sie gehört von Grund auf zur Sprache und markiert einen Riss zwischen Mensch und Natur.

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