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VI. G. SERAPIO MARCANO: GEDANKEN ÜBER DEN TRIEB. MUTATION – TRANSFORMATION – EVOLUTION Serapio Marcanos (1994) formuliert in “Todestrieb? Oder Tod des Triebes?”, [“¿Instinto de muerte? ¿O muerte de la pulsión?”] tiefe theoretische Gedanken an der Schnittstelle von Psychoanalyse und Philosophie. In diesem Diskurs deckt er einige der Schwierigkeiten auf, die den Konzepten der Lebenstriebe und des Todestriebs als zwei Säulen der psychoanalytischen Theorie inhärent sind. Die multiplen Vertices, die sich dadurch ergeben und unter denen menschliche Phänomene theoretisch konzipiert werden können, haben weitreichende Implikationen für psychoanalytische Theorien, klinische Methode und Praxis. Marcano zufolge erfordert das Konzept des Todestriebs eine Revision der Rolle, die die Aggression von Beginn des Lebens an in menschlichen Beziehungen spielt. Die Aggression als eine universale und von allen Trieben unabhängige Eigenschaft kann sich in bestimmten Situationen verselbständigen und in einer der beiden konfligierenden, ihr Ziel verfolgenden Strebungen an Stärke gewinnen. Das Ziel kann darin bestehen, den im Unbewussten nach Ausdruck strebenden Sexualtrieb verschwinden zu lassen / zu verdrängen; diese Fraktion liegt im Kampf mit einer anderen, deren Komponente phylogenetisch und weder das Objekt von Verdrängung noch von Repräsentation ist. Wenn das Objekt auftaucht und das Ich sich zu entwickeln beginnt, bedeutet die Aggression im Dienste des Ichs für die Sexualtriebe den Tod. Die Dramatisierung des Konflikts kann im Subjekt selbst repräsentiert werden, das die Rolle des verdrängenden Ichs übernimmt und gleichzeitig das Objekt seiner eigenen verdrängten Sexualtriebe ist. Er kann auch als eine interaktive Beziehung zu einem „Anderen“ aus der Außenwelt repräsentiert werden. In diesem Fall kann der aggressive Trieb die Rolle des aggressiven Ichs spielen, das den Sexualtrieb im Anderen tötet, oder auch die Rolle des Sexualtriebs, der die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe des Individuums tötet und dadurch die Symbolisierungsprozesse zerstört und letztlich das Leben an sich vernichtet. Aggression spielt hier nur eine sekundäre Rolle im dynamischen und ökonomischen Prozesse der Sexual-, Ich- oder Selbsterhaltungstriebe. Marcano verfolgt das Schicksal der Aggression durch die Entwicklung der Triebtheorie hindurch – von der Aggression als Komponente aller Triebe über ihre Äußerung im Kontext der Subjekt-Objekt-Beziehungen, der Beziehungen zwischen Ich und äußerer Realität sowie zwischen Lust und Unlust einschließlich der Liebes- und Hassaffekte, die in solchen Beziehungen auftauchen. Im Laufe dieser Entwicklung wächst dem Objekt eine zunehmend wichtige Rolle zu; gleichzeitig erhalten nun auch die transformativen und „trans-mutativen“ Eigenschaften der Aggression mehr Gewicht. Wenn das Objekt Unlust erzeugt, wird es abgelehnt und gehasst – bis hin zu der Absicht, es zu vernichten. Doch mit der Vernichtung des Objekts als Quelle der Unlust werden auch jene Aspekte der unlustvollen inneren Triebreize vom Subjekt abgespalten und auf die Außenwelt projiziert oder reprojiziert. Der Hass, der das Objekt tötet, ist
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