Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Vorstellungen des Primärvorgangs einander ihre Intensität und stehen „in den lockersten Beziehungen zueinander “ (ebd., S. 602) . Während Freud dem Zensor die ausschlaggebende Rolle in den irrationalen unbewussten Prozessen zuzuschreiben begann, wies er am Ende dem Primärvorgang einen beherrschenden Platz neben den logischen Gedanken des Bewusstseins zu. „Diese inkorrekten Vorgänge“, so schreibt er, „sind die im psychischen Apparat primären ; sie treten überall dort ein, wo Vorstellungen von der bewussten Besetzung verlassen, sich selbst überlassen werden und sich mit der ungehemmten, nach Abfluss strebenden Energie vom Unbewussten her erfüllen können“ (ebd., S. 610f.). Mithin ist der Primärvorgang ein psychischer Funktionsmodus, der von den Hemmungen, die dem bewussten Denken auferlegt sind, frei ist. Er kann als Organisationsprinzip verstanden werden, das im normalen Leben des Erwachsenen als Alternative zu den vorherrschenden logischen und verbalen organisierten Sekundärvorgängen mitsamt ihrer kommunikativen Sprachsymbolik besteht. Ein wichtiges Merkmal des Primärvorgangs ist seine Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit und Widerspruch. Ein weiteres Charakteristikum ist die durch ihn erzeugte halluzinatorische Wunscherfüllung als Wahrnehmungsakt in der Gegenwart (1912a). So verstanden, ist der Primärvorgang ein kognitiver Prozess, der sich wesentlich von der kognitionspsychologischen Definition der Kognition unterscheidet. Systematisiert hat Freud sein Konzept des Unbewussten und seine ökonomischen, dynamischen und topischen Grundannahmen schließlich in seinen metapsychologischen Texten (Freud 1915a, b, c): In „Triebe und Triebschicksale“ (Freud 1915a) definiert er die Triebe als „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“ (ebd., S. 214). In „Die Verdrängung“ (Freud 1915b) unterscheidet er zwischen der Urverdrängung , „die darin besteht, dass der psychischen (Vorstellungs-) Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewusste versagt wird“ (ebd., S. 250), und der „ eigentliche[n] Verdrängung “, dem „Nachdrängen“ (ebd.). In „Das Unbewusste“ (Freud 1915c) gelangt die topische Theorie an ihren Höhepunkt. Freud untersucht zunächst das Konzept eines dynamischen Unbewussten , das als Gegenkraft zum Akt der Verdrängung wirkt. Sodann postuliert er die Existenz des Unbewussten mittels seiner Abkömmlinge - Fehlleistungen, Symptome und Träume – und zeigt, dass auch Gefühle, Denken, Erinnern und Handeln weitgehend dem Einfluss unbewusster Abkömmlinge unterliegen. Freud trifft eine Unterscheidung zwischen latenten Akten, die vorübergehend und lediglich deskriptiv unbewusst sind, aber durch Verbindung mit einem Wort bewusst werden können, und verdrängten Prozessen und Inhalten, die dauerhaft unbewusst sind und dynamisch vom Bewusstsein ferngehalten werden (diese entsprechen dem dynamischen Unbewussten ). Im Unbewussten gibt es kein Entweder-Oder; der Primärvorgang und seine Merkmale – Zeitlosigkeit , Verschiebung und Verdichtung – treffen gleichermaßen auf das Unbewusste zu wie fünfzehn Jahre zuvor auf den „Traumvorgang“. Freud postuliert zwei Zensoren, nämlich einen zwischen den Systemen Ubw und Vbw, der unter

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