Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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nichts wissen will, wird aus der inneren Wahrnehmung in die Außenwelt geworfen […]. Nicht wir, die Überlebenden, freuen uns jetzt darüber, dass wir des Verstorbenen ledig sind; nein, wir trauern um ihn, aber er ist merkwürdigerweise ein böser Dämon geworden […], der uns den Tod zu bringen sucht. Die Überlebenden müssen sich nun gegen diesen bösen Feind verteidigen; sie sind von der inneren Bedrückung entlastet, haben sie aber nur gegen eine Bedrängnis von außen eingetauscht“ (ebd., S. 79). Der Text ist eine herausragende Darlegung der phylogenetischen Schemata, die sich in den Urphantasien als einem der Inhalte des Unbewussten manifestieren. In „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ behandelt Freud (1918) die Schwierigkeit kleiner Kinder, zwischen dem, was bewusst, und dem, was unbewusst ist, sowie zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Diese Schwierigkeit ergibt sich, weil das System Bw „noch in der Entwicklung begriffen“ (S. 139) ist. In diesem Text geht er ausführlicher auf die Entwicklung der Zweiteilung des psychischen Apparates ein, die er schon rund drei Jahre zuvor theoretisch konzeptualisiert hatte, als er über die Kommunikation zwischen den System Bw und Ubw schrieb: „Eine scharfe und endgültige Scheidung des Inhaltes der beiden Systeme stellt sich in der Regel erst mit dem Zeitpunkte der Pubertät her“ (Freud 1915c, S. 294). In „Ein Kind wird geschlagen“ (Freud 1919), einem Text, der auf die duale Triebtheorie vorausdeutet, untersuchte Freud die sadomasochistischen unbewussten Phantasien von Jungen und Mädchen, vom Vater oder von der Mutter geschlagen zu werden. In diesem Schlüsseltext über die Phantasiebildung unterschied er zwischen drei Phasen. In der ersten beobachtet das Kind, wie ein anderes Kind geschlagen wird. Die „wichtigste und folgenschwerste von allen“ (S. 204) Phasen aber ist die zweite, und zwar aus doppeltem Grund. Einerseits wird der Masochismus als eine sekundäre Bildung/Phase des gegen das Selbst gewendeten und sodann verdrängten sadistischen Triebs betrachtet. Dies hängt mit einer universalen unbewussten infantilen Sexualität zusammen, die den Kern neurotischer Phänomene bildet: „Daher ist die der Verdrängung unterliegende infantile Sexualität die Haupttriebkraft der Symptombildung, und das wesentliche Stück ihres Inhalts, der Ödipuskomplex, der Kernkomplex der Neurose“ (ebd., S. 226). Er wird zu einem universalen Phantasieerbe: „Den Kern des seelisch Unbewussten bildet die archaische Erbschaft des Menschen, und dem Verdrängungsprozess verfällt, was […] als unbrauchbar, als mit dem Neuen unvereinbar und ihm schädlich zurückgelassen werden soll“ (ebd., S.225f.). Andererseits lässt sich die kindliche Phantasieproduktion nur indirekt verifizieren: „Aber man kann in gewissem Sinne von ihr sagen, sie habe niemals eine reale Existenz gehabt. Sie wird in keinem Falle erinnert, sie hat es nie zum Bewusstwerden gebracht. Sie ist eine Konstruktion der Analyse, aber darum nicht minder eine Notwendigkeit“ (ebd., S. 204). Jenseits des Lustprinzips (Freud 1920) ist ein Übergangstext, bekannt vor allem, weil Freud in dieser Abhandlung den Sexualtrieb um den Aggressionstrieb ergänzte. In dieser abschließenden Darlegung seiner Theorie der dualen Triebe führte Freud auch die Zeitlosigkeit und den pervasiven Charakter des Unbewussten weiter aus: „Wir

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