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vielleicht wichtigste empirische Beleg für das basale Motivationssystem, das Freud als Todestrieb , den Gegenpart der Libido, bezeichnet hat. In ähnlicher Weise beschreiben Louis Brunet (2007, 2015, 2016, 2018, 2019) sowie Casoni und Brunet (2005, 2007) die komplexen Regressionsprozesse in gewaltbereiten Sekten und in radikalisierten oder terroristischen Gruppen, die es den beteiligten Individuen erlauben, Morde an einzelnen Menschen und Massenmorde zu verüben. Unter anderem gestützt auf die Untersuchung des Völkermordes in Ruanda und einer gewaltbereiten religiösen Sekte und ausgehend von Interviews mit radikalisierten jungen Menschen, die zu Terroristen wurden, entwickeln sie ein Modell der Auswirkungen regressiver Gruppenprozesse auf den psychischen Apparat des Individuums, die extreme Gewalttätigkeit begünstigen. Eine These lautet, dass eine Gruppe, deren Mitglieder Ideale oder Leidenschaften miteinander teilen, quasi eine „Gruppenpsyche“ entwickelt. Einer der zahlreichen Mechanismen, die dies bewirken, ist die radikale, regressive Umkehrung der Besetzungen von Über-Ich und Ideal-Ich. Diese radikale Umkehrung ermöglicht es dem Individuum, sich über die üblichen moralischen Überzeugungen hinwegzusetzen und sich zu verhalten, als stünde es über dem Gesetz. Das Ideal-Ich, das die Omnipotenzphantasien enthält, zielt auf vollständige, grenzenlose Befriedigung aller Wünsche und Triebe und lässt das restriktive, unterdrückende und „verbietende“ Über-Ich dabei völlig außer acht (Casoni und Brunet 2002). Laut Brunet und Casoni (2005, 2007) beruht die Intensität, mit der ein Individuum den Mechanismus der Identifizierung mit dem Angreifer einsetzt, auf seinen eigenen destruktiven Trieben , so dass jedes Agieren, das auf diesem Mechanismus beruht, im Licht seines regredierten sozialen Funktionierens extrem grausam werden kann. Darüber hinaus ist die unbewusste Aktivierung von manischen Abwehrmechanismen für weniger regredierte Protagonisten gesellschaftlicher Gewalt oft das wirksamste Mittel, um latente Schuldgefühle abzuwehren, weil der Einsatz manischer Abwehrmechanismen die Befriedigung starker Partialtriebe ermöglicht. Das allen Individuen in unterschiedlichem Maß eigene unbewusste Potenzial zu primitiver Aggression kann in regressiven Gruppenprozessen sehr rasch aktiviert werden . Diese in der Gruppe aktivierte Aggression hat sich in der gesamten Geschichte immer wieder mit der kollektiven Internalisierung historischer Traumata verbunden ( Volkan 1999; Papiasvili & Mayers 2013). Morris Nitsuns (1996) Konzept der „ Antigruppe “, eines Zusammenkommens unbewuster destruktiver Elemente, die das Funktionieren der Gruppe – sei’s einer therapeutischen Gruppe, einer Organisation oder Institution oder ein makrosozialer Kontext – gefährden . Nitsun (1996) sowie Papiasvili und Mayers (2013) betonen sowohl das grenzenlose destruktive als auch das kreative Potenzial der irrationalen und regressiven, zugleich aber auch belebenden und erneuernden unbewussten Inhalte und Prozesse der Gruppe.
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