Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

haben erfahren, dass die unbewussten Seelenvorgänge an sich ‚zeitlos‘ sind. Das heißt zunächst, dass sie nicht zeitlich geordnet werden, dass die Zeit nichts an ihnen verändert, dass man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbringen kann“ (S. 28). Auf die nächste Stufe seiner Theorieentwicklung vorausdeutend, führt er nun auch das Konzept des unbewussten Ichs ein: „Vieles am Ich ist sicherlich selbst unbewusst, gerade das, was man den Kern des Ichs nennen darf; nur einen geringen Teil davon decken wir mit dem Namen des Vorbewussten “ (ebd., S. 18). Dieser Text enthält auch eine Neuformulierung des Konzepts des unbewussten Konflikts : Handelte es sich zuvor um einen Widerstreit zwischen Sexual- und Selbsterhaltungstrieben (Freud 1911c, 1914b), so spielt er sich nun, 1920, zwischen den Trieben und der Abwehr ab. Freud (1908, 1909b) hatte in dieser Phase außer der Verdrängung bereits weitere Abwehrmechanismen, zum Teil zur Verdrängung gehörend, identifiziert, sie aber noch nicht systematisiert; in der Konzeptualisierung des unbewussten Konflikts wurde „Verdrängung“ praktisch als Synonym für „Abwehr“ benutzt. II. C. Das Unbewusste des Strukturmodells/der zweiten Topik: 1923-1939 Als Freud im Jahre 1923 sein (erstes) topisches Modell in die Strukturtheorie/zweite Topik des Es, des Ichs und des Über-Ichs transformierte, wurde das Unbewusste als System abgeschafft und durch das Es ersetzt. Dies war eine ganz wesentliche Veränderung der Freud’schen Theorie, und zwar nicht allein im Hinblick auf das Unbewusste, sondern auch in Bezug auf das Ich und die Triebe. Der Hauptunterschied zwischen dem Unbewussten und dem Es besteht darin, dass es in den tieferen Es-Schichten keine Repräsentanzen gibt. Konstituiert wird das Es durch Triebstrebungen sexueller und aggressiver Natur, die Freud (1920) zuvor in Jenseits des Lustprinzips beschrieben hatte. Später bezeichnete er das Es metaphorisch als „ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen“ (Freud 1933, S. 73). Mit dem Ich hat Freud, anders als mit dem Es, in all seinen Schriften gearbeitet, nun aber wird es im Zuge der Weiterentwicklung seines Denkens und aufbauend auf der vorangegangenen Einführung der Konzepte des Narzissmus sowie der Identifizierung (Freud 1914) differenzierter beschrieben. Zu den 1923 dargelegten wesentlichen Veränderungen bezüglich der Ich-Organisation zählt auch die Anerkennung unbewusster Ich-Aktivität , deren Wurzeln bis ins Jahr 1895 zurückreichen. Damals hatte Freud das Bild eines „Infiltrats“ benutzt, um die Schwierigkeit zu beschreiben, „die pathogene Organisation“ vom Ich selbst zu trennen: „Die pathologische Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremdkörper, sondern weit eher wie ein Infiltrat. Als das Infiltrierende muss in diesem Gleichnisse der Widerstand angenommen werden“ (Freud 1895 [1893-95], S.295). Im neuen Strukturmodell werden zahlreiche zuvor identifizierte Abwehrmechanismen (Identifizierung, Einverleibung, Projektion, Introjektion, Reaktionsbildung, Ungeschehenmachen, Regression usw.) ergänzend zur Verdrängung, von der es sie zu unterscheiden gilt, systematisiert und eindeutig im unbewussten Ich lokalisiert.

1018

Made with FlippingBook - Online magazine maker