Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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VII. C. KUNST UND LITERATUR Leonardo „hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt; er ergab sich nun der Forschung mit jener Ausdauer, Stetigkeit, Vertiefung, die sich aus der Leidenschaft ableiten, und auf der Höhe […] einer Erkenntnis […] erfaßt ihn das Pathos und er preist in schwärmerischen Worten die Großartigkeit jenes Stückes der Schöpfung, das er studiert hat (Freud 1910c, S. 141). Freuds umstrittener und bahnbrechender Beitrag über Leonardo da Vinci leitete die interdisziplinäre psychoanalytische Forschung ein und “warf Licht auf neue psychologische Dimensionen der Kunst” (Blum, 2001, p. 1409). In diesem Beitrag, der die erste umfängliche Darlegung des Narzissmus enthält, definierte Freud die Sublimierung als Ablenkung des Sexualtriebs auf nicht-sexuelle Ziele. Die Libido außergewöhnlich kreativer Persönlichkeiten entzieht sich partiell der neurotischen Verdrängung und Hemmung und kann stattdessen schon früh sublimiert und „in Wissensdrang verwandelt“ werden. „Dem Künstler“, so schreibt Freud (1910c), „hat eine gütige Natur gegeben, seine geheimsten, ihm selbst verborgenen Seelenregungen durch Schöpfungen zum Ausdruck zu bringen“ (S. 178). Freud hat sein Verständnis der Sublimierung parallel zur Ausarbeitung seiner Triebtheorien entwickelt (Freud 1910c, 1914c, 1920g, 1923b). In Nordamerika ging die psychoanalytische Erforschung der Sublimierung von Sexualität und Aggression im Kontext der Künste, der Wissenschaft und der Kultur im umfassenderen Sinn mit unterschiedlichen Konzepten des Zusammenspiels von Primär- und Sekundärvorgang, Übergangsphänomenen, Zerstörung, Verlust und Wiedergutmachung, Regression, Transgression, Desintegration-Reintegration, Symbolisierungs- und Repräsentationsprozessen, transformativem Ich-Funktionieren und Konflikt einher und damit deutlich über die Sublimierung als einen der Abwehrmechanismen des Ichs hinaus (Blum 2011; Chessick 2001; Kris, 1952; Papiasvili 2020; Rose 1963, 1987, 19891, 1990; Wilson 2003). Die Komplexität solcher multiperspektivischen Untersuchungen der Triebe in der kreativen Arbeit visueller Künstler illustriert die folgende Aussage von Gilbert Rose (1963): „Die Hand des Künstlers kann die alte Mund-Hand- und Körper-Ich- Integration fortsetzen, indem sie sexuelle und aggressive Energie auf die Leinwand überträgt, so wie sie diese in früher Kindheit vom Mund auf die Haut übertragen hat. Die Leinwand kann mitunter für die Haut stehen“ (S. 787f.). Was Literatur und Dichtung betrifft, so las Freud Ernest Jones (1953) zufolge Dante Alighieris Göttliche Komödie während seiner Selbstanalyse, als er Die Traumdeutung (1900a) verfasste. Die Komödie wurde später auch als „Psychoanalyse des Mittelalters“ (Chessick 2001) bezeichnet, und mehrere nordamerikanische Autoren haben versucht, sie psychoanalytisch zu untersuchen. David Aberbach (1984) betrachtet die Komödie unter dem objektbeziehungstheoretischen Blickwinkel und rückt dabei das Schicksal von Aggression und Liebe verlorener, gefundener und erschaffener Objekte in den Fokus.

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