Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Laut Richard Chessick (2001) ist die Komödie ein Drama des strukturellen Konflikts, in dem das Inferno das Es repräsentiert, das Fegefeuer das Ich und das Paradie das Ich- Ideal als Überbau. Eva Papiasvili (2020) erweitert die Sichtweisen beider Autoren, indem sie Dantes Meisterwerk multiperspektivisch als eine protopsychoanalytische, poetische Repräsentation der Wiedergewinnung und Erweiterung des Eros durch eine komplizierte, das Selbst transformierende Reise in die entlegensten Anteile der Psyche erörtert; repräsentiert wird der Trieb durch die beispiellose Einheit von Form und Inhalt. Dantes Erfindung und Verwendung der Terzinenstrophe wird als dichterisches Mittel betrachtet, den unglaublich lebendigen Impuls oder Antrieb zu repräsentieren, „der das Geschehen in Gang hält und befeuert, ohne je in Monotonie zu verfallen“ (S. 41). Denn für „den Psychoanalytiker ist das Göttliche die Metapher der Repräsentationsfähigkeit“ (S. 48), das Voranschreiten verläuft von der Unmittelbarkeit des ungehemmten Triebs, „abgeführt“ in die „Sprache der Körperlichkeit“ des Infernos , über den traumähnlichen Fokus auf die inneren Prozesse, die sich subjektiv entfalten und zu erweiterter Symbolik und Repräsentation im Purgatorium führen, zu dem Versuch, mittels einer ganzen Bandbreite an Bewegungen, Lichtern und Farben eine mit Liebe/Eros gefüllte erweiterte „transrepräsentationale“ Welt des Paradieses zu erschaffen. So gesehen, gewährt die Komödie einen proto-psychoanalytischen Einblick in die komplexe Bedeutung von Regression, Destruktion, Transgression und Konflikt für die Ermöglichung von Entwicklung, Erweiterung und Kreativität im Kontext der präsubjektiven, intrasubjektiven und intersubjektiven Untersuchung, die zu psychischer Reorganisation führt: „Das Inforno ermöglicht es dem sorgenvollen Dante, sich mit Hilfe der verlässlichen, schützenden und beruhigen Präsenz Virgils des Rätsels der primitivsten sexuellen und aggressiven Kräfte […] bewusst zu werden. Mit ihrer verbalen Repräsentation im intrasubjektiven und intersubjektiven Kontext beginnt der Prozess der Anerkennung solcher Kräfte als Teil der eigenen inneren Ausstattung und ihrer anschließenden Integration, Modulierung, Sublimierung und Bemeisterung“ (Papiasvili 2020, S. 41).

VIII. SCHLUSSBETRACHTUNG – ZUSAMMENFASSUNG

Das Triebkonzept ist eines der schwierigsten und strittigsten Konzepte der psychoanalytischen Theorie. Dafür gibt es viele Gründe. Vorrangig zu nennen ist vermutlich Freuds tiefe Überzeugung, dass die – sexuellen und aggressiven – Triebe die fundamentalen „Grundbausteine“ der menschlichen Psyche bilden, von Geburt an vorhanden sind und inhärent inzestuöse Konflikte in der frühen Mutter-Säugling- Matrix hervorrufen. Ein zweiter Grund ist die Verwendung des Konzepts als Brücke zwischen dem körperlichen und dem psychischen Bereich. Drittens eignen dem Trieb

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