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sowohl eine metapsychologische (zuweilen fast mythologische, wie Freud selbst es ausdrückte) Dimension als auch eine klinische (die nach wissenschaftlicher Forschung verlangt), was dazu beiträgt, dass das theoretische Konzept und die Phänomene, die es erfasst, nach wie vor zu gewissem Grad als rätselhaft angesehen werden. Gleichwohl gaben ebendiese Aspekte den Blick frei für weitreichende Entwicklungen des psychoanalytischen Denkens und damit einhergehende bedeutsame klinische Implikationen: Die Bezeichnung des Triebs als „Grenzbegriff“ unterlief den cartesianischen Leib-Seele-Dualismus. Auf der Grundlage der frühen Phase seiner Triebtheorie formulierte Freud die radikalen Konzepte der Ergänzungsreihen und postulierte eine Kontinuität zwischen Krankheit und Gesundheit. Darüber hinaus kann Freuds laufende Weiterentwicklung, Erweiterung und Bearbeitung seiner Triebtheorie als „work in progress“ verstanden werden (wie es durchaus gewinnbringend auch geschehen ist) und in diesem Sinn zu weiterer Forschung anregen. So hat Freuds „interdisziplinäres Theoretisieren“ den interdisziplinären Dialog und die wechselseitige Befruchtung unterschiedlicher Trieb- und Affektkonzepte angeregt. Was die europäische Perspektive betrifft , so haben sich die Kontroversen über Triebbegriff und Triebtheorie als wichtige „Antriebskraft“ postfreudianischer theoretischer Entwicklungen erwiesen, weil der Trieb Teil zahlreicher zentraler Diskussionen und Kontroversen war, die sich – erstens – um die Frage der Motivation drehten: Was treibt das menschliche Subjekt an, und wonach sucht oder strebt es? Sind körperliche Bedürfnisse und Versuche, sie zu handhaben, der Ausgangspunkt, oder ist die Suche nach bestimmten Gefühlen in der Beziehung zu anderen Menschen die wichtigste Motivationskraft? Hierbei geht es um die grundlegende Zerrissenheit des Menschen: Triebabfuhr oder Objektsuche. Selbst wenn man keinen Widerspruch zwischen beiden Faktoren erkennt (weil der Trieb immer nach einem Objekt sucht), bleibt die Frage: Ist das Objekt der zufälligste, austauschbare Teil der „Triebreihe“, oder ist das Objekt für den Trieb, seine zentrale Bedeutung als Motivation und seine Wahrnehmung in Wahrheit konstitutiv? Auf der Grundlage ebensolcher Kontroversen entstanden die britischen Objektbeziehungstheorien und -perspektiven. Mit ihren frühen Ursprüngen in Freuds Narzissmus-Abhandlung haben die unterschiedlichen Richtungen der Objektbeziehungstheorien auf allen Kontinenten immense Beiträge sowohl zur psychoanalytischen Theorie als auch zur klinischen Praxis mit übergreifendem Einfluss auf divergierende psychoanalytische Orientierungen geleistet. Die modernen europäischen Ansätze bergen aber auch die Möglichkeit in sich, die „kontroversen Diskussionen“ in fruchtbare „Diskussionen über Kontroversen“ zu verwandeln. Die französische Psychoanalyse sowie viele zeitgenössische postfreudianische objektbeziehungstheoretische, feldtheoretische und relationale Schulen zeigen ebenso wie ein breiter Bereich an synthetisierenden, integrativen und hybriden Konzeptualisierungen aus Europa sowie Nord- und Südamerika, dass die Bedeutsamkeit von Objektbeziehungen und Beziehungen „zum/zur Anderen“ der Triebtheorie keineswegs zuwiderlaufen , sondern dass auch die Möglichkeit einer
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