Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Die Vielfalt heutiger theoretischer Formulierungen schließt auch die komplizierte Beziehung der Triebe zu den biologischen, somatischen und neurobiologischen Grundlagen ein sowie ihre unterschiedlichen destruktiven und kreativen Äußerungen im gesellschaftlichen, Gruppen- und kulturellen Kontext.

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Im Großen und Ganzen weicht heute in allen Regionen die Annahme einer Dichotomie zwischen sich gegenseitig ausschließenden Trieben und Objekten (und dem Nebenmenschen) nach und nach der Annahme einer je unterschiedlich konzeptualisierten Interaktion zwischen Trieben und Objekten, die sich im Laufe der Entwicklung wie auch im analytischen Prozess miteinander verflechten. Das Maß, in dem „multiple Triebdualitäten“ durch eine solche Interaktion geprägt oder konstruiert werden, bleibt allerdings umstritten. Damit zusammen hängt heute ein starkes theoretisches und klinisches Interesse an unterschiedlich konzeptualisierten Triebäußerungen, die psychisch nicht verstoffwechselt, nicht containt, nicht symbolisiert und nicht repräsentiert werden. Die Wechselfälle körperlicher Erfahrungen in der Entwicklung sowie infolge von Krankheit und Trauma werden als entscheidender Impetus – und als Begrenzung – für psychische Verarbeitung und Entwicklung betrachtet. Theoretische Konzeptualisierungen des „nicht verstoffwechselten“ Traumas als „nicht endende Wiederholung dessen, was nie als lustvoll erlebt wurde“, Konfigurationen des „Zeropross-Triebs“ und der „Zeroprozess-Abwehr“ sowie verschiedene Konzeptualisierungen des „Todestriebs“ als zerstörerische Kraft im psychischen Leben, die sich der Entwicklung und der Zähmung im individuellen und gesellschaftlichen Kontext widersetzt, sind nur einige wenige von zahlreichen möglichen Beispielen. Die den Konzeptformulierungen inhärenten multiplen Dualitäten geben eine theoretische Anerkennung der Grenzen des psychoanalytischen Verstehens zu erkennen. An der Grenze zwischen dem Somatischen und dem Psychischen impliziert der Triebbegriff das Verständnis einer nicht einheitlichen Psyche. Als Grenzbegriff treibt das Konzept eine „Bewegung“ in Richtung der Grenzen psychoanalytischer Theorien und Definitionen an. Uralt und gleichwohl mehr als modern markiert das Triebkonzept am Rande dessen, was wir wissen können, nicht nur die Kontinuität zwischen Theorie und klinischer Praxis, sondern bricht diese Kontinuität auch auf, lässt Lücken und Diskrepanzen erkennbar werden und stimuliert auf diese Weise das fortgesetzte Drängen auf Weiterentwicklung mit dem Ziel, solche Lücken zu schließen. Die vor allem in der frühen Kindheit, partiell aber auch lebenslang radikale Abhängigkeit des menschlichen Subjekts von Anderen wird von Psychoanalytikern aller theoretischer Orientierungen anerkannt. Aber die spezifische Verbindung und Gewichtung der konstitutionellen Faktoren / Potenziale / der Triebe und ihrer

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