Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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als eine Kompromissbildung, die sämtliche Komponenten des strukturellen Konflikts enthält (Papiasvili 1995). Dieser erweiterten Perspektive entsprechend, organisiert die unbewusste Phantasie die machtvollen Wünsche, Ängste und Selbstbestrafungsimpulse, die im Zuge der Entwicklungsaufgaben auftauchen. Jedes Individuum erzeugt sein eigenes unverwechselbares Reservoir an unbewussten Phantasien, die einen Versuch darstellen, bedeutsame Konflikte, Erfahrungen und Beziehungen zu verstehen, auf sie zu reagieren und sie zu bewältigen. Abend (1990) hat dieses erweiterte Konzept später noch einmal ergänzt, indem er schrieb, dass Phantasien „andere Phantasien verändern und entstellen sowie Befriedigung vermitteln können“ (S. 61). Während der gesamten Entwicklung haben die Kernnarrative der unbewussten Phantasien Bestand, auch wenn ihre Manifestationen endlose Transformationen erfahren, die dann, den verschiedenen Entwicklungsstufen entsprechend, andere „Auflagen“ darstellen. Unbewusste Phantasien prägen unsere Charaktereigenschaften, bestimmen unser Verhalten, unsere Einstellungen, rufen unsere Symptome hervor und üben maßgeblichen Einfluss auf unsere beruflichen Interessen und unsere Liebesbeziehungen aus. In der psychoanalytischen Situation liegen sie sämtlichen Übertragungshaltungen und –aktivitäten zugrunde. Solche unbewussten Phantasien sind zwar modifizierbar und in ständiger Reifung begriffen, solange wir unbewusst nach neueren, effektiveren Lösungen suchen. Ihre Ursprünge aber bleiben archaisch und fixiert und üben einen dynamischen Einfluss auf unser Erleben aus. Deshalb eignen der unbewussten Übertragungsaktivität sowohl strukturelle als auch prozesshafte Aspekte. Arlow und Richards (1991) vertreten die Annahme, dass die inakzeptablen Kindheitswünsche „die Gestalt überdauernder unbewusster Phantasien annehmen und das psychische Geschehen ständig stimulieren“ (S. 309). Das Resultat sind Komprissbildungen auf einem Kontinuum zwischen einem adaptiven und einem fehlangepassten Pol. Leo Rangell (1967) bezeichnete den Bereich unbewusster intrapsychischer Konflikte als das Gebiet der Psychoanalyse. Das Auftauchen eines unbewussten Konflikts erfolgt seiner Ansicht nach in zwölf aufeinanderfolgenden Schritten (Rangell 1969a), von der Initiierung durch den auslösenden Reiz bis zum endgültigen psychischen Ergebnis. Rangell (1969b, 1971) lenkte die Aufmerksamkeit auf die unbewusste Entscheidungsfunktion des Ichs im Kontext des sich entfaltenden ubiquitären unbewussten intrapsychischen Prozesses. Diese Funktion gibt vor, ob das Individuum unbewusst die Abwehr in Stellung bringt, wenn ihm durch Angst eine drohende Gefahr signalisiert wird. Im Laufe der Zeit werden unbewusste Entscheidungen in dauerhafte Charaktereigenschaften und fixierte Erwartungen integriert. Mit dieser 12-Schritte-Sequenz des intrapsychischen Prozesses postuliert Rangell zugleich eine „einheitliche Angsttheorie“, die die erste Angsttheorie des topischen Modells und die Signalangsttheorie des Strukturmodells miteinander verbindet, und zwar durch die Umwandlung der traumatischen Angst (passive Erfahrung des Ichs) in die Signalangst des Ichs, das eine drohende Gefahr wahrnimmt.

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