Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Gestützt auf Freuds (1914b) Beitrag über den Narzissmus, der als Vorläufer sowohl der Strukturtheorie als auch der Objektbeziehungstheorie zu betrachten ist, tendierten zahlreiche damalige Freudianer dazu, in den Objektbeziehungen einen Aspekt der allgemeinen psychoanalytischen Theoriebildung zu sehen (Blum 1998). Die Objektbeziehungen rückten mehr und mehr ins Zentrum des Interesses, und damit einhergehend versuchte man, die Ich-Psychologie/Strukturtheorie und die Objektbeziehungstheorie zu integrieren. Kernberg (1982, 2015) formulierte eine Sichtweise des prä-ödipalen unbewussten intrapsychischen Konflikts , der zufolge sich dieser Konflikt zwischen internalisierten gegenläufigen Einheiten der Selbst- und der Objektrepräsentanzen und ihren jeweiligen affektiven Dispositionen abspielt. Im Rahmen dieser Konzeptualisierung bilden die Affekte, die nach und nach zu Trieben integriert werden, ein primäres (unbewusstes) Motivationssystem (siehe die Einträge OBJEKTBEZIEHUNGSTHEORIEN und KONFLIKT). Vor etlichen Jahren bezogen Bach (2006), Ellman (2010) sowie C. Ellman et al. (1998) auch Gesichtspunkte der britischen Schule der Objektbeziehungstheorie mit ein, insbesondere die Trennungsängste, den Selbstverlust und die Verwendung des Objekts durch das Selbst. In Anbetracht der Schwierigkeit, den Blickwinkel eines anderen Menschen einzunehmen, führten sie die Empathie als Instrument zur Bewusstmachung des zuvor Undenkbaren ein. Ellman (1998) erweiterte den Zugang zum Unbewussten, indem er Enactments als Brücken zum Verständnis unbewusster Phantasien konzipierte. III. Aa. Moderne Strukturtheorie/Ich-Psychologie Der modernen Strukturtheorie/Ich-Psychologie zufolge ist nicht alles eine Kompromissbildung: die Verdrängung und andere spezifische Abwehrmechanismen sind keine Kompromissbildungen; das Ich bringt nicht nur Konflikte zustande, sondern kann auch Entscheidungen zwischen Alternativen treffen (Blum 1998; Rangell 1969). In dieser Denkschule wird die von Kris (1956c), Hartmann (1939; Hartmann, Kris und Loewenstein 1946) geführte Diskussion über das Wesen der Verdrängung in der Theorie und unter Bezugnahme auf detailliertes klinisches Material um eine Vielzahl parallel ablaufender Entwicklungs- und klinischer Prozesse erweitert (Busch 1992, 1993; Gray 1994; Ellman 2010). Ausgehend von Freuds (1914a) Konzept des Unbewussten als Schlüssel zum Durcharbeiten haben die moderne Strukturtheorie und Ich-Psychologie die Konzepte der unbewussten Ich-Aktivität weiterentwickelt; ihre Erforschung der unterschiedlichen Formen des Unbewussten trägt den Grenzen ihres Erklärungspotentials Rechnung. Diese theoretischen Trends bilden ein potentielles Gegengewicht zu einer weiteren zeitgenössischen Tendenz, die darauf hinausläuft, das dynamische Unbewusste durch das implizite, prozedurale, automatisierte und nicht symbolisierte Nicht-Bewusste zu ersetzen. Zum Beispiel kann man das prozedurale Gedächtnis und die Automatisierung mentaler Vorgänge nutzen, um zu verstehen, auf welche Weise verschiedenartige Ich-Vorgänge, etwa die Abwehrmechanismen, sich jeder Veränderung so hartnäckig widersetzen und ein gründliches Durcharbeiten erfordern. Damit die unerwünschte Abwehrmaßnahme aufgehoben werden kann, ist es

1028

Made with FlippingBook - Online magazine maker