Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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psychischen Struktur hielt, ergab sich aus ihrer These, dass den Trieben eine Kenntnis oder zumindest eine Ahnung vom Objekt als Ziel oder Quelle der Befriedigung inhärent sei. Im Gegensatz zur Freud’schen Theorie, der zufolge der Trieb mit Abkömmlingen in der Psyche existiert und das Objekt „gefunden“ werden muss, um in die unbewusste Gleichung eingefügt werden zu könne, ist das Objekt des Triebes bei Klein ab initio präsent; es ist der kindlichen Psyche angeboren und festverdrahtet . Neben dem Objekt gibt es auch ein angeborenes Gewahrsein des Selbst als Subjekt , zum Beispiel als begehrendes Subjekt , so partiell, vage oder primitiv es auch sein mag. Die Grundheit des „Ich will etwas von dir (als Partial- oder als ganzes Objekt) haben oder etwas mit dir machen“ kennzeichnet schon die ersten Anfänge der psychischen Aktivität. Das Freud’sche Konzept der Kontaktschranke wurde von Bion weiterentwickelt. Er übernahm es aus dem „Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie“ (Freud 1950 [1895]) und konzipierte es neu. Hatte Freud die Verdrängung als eine Schranke verstanden, die das bewusste System vor dem unbewussten schützte, so postulierte Bion genau das Gegenteil, nämlich dass „die Verdrängung gleichermaßen das System Ubw vor sensorischen Stimuli aus dem System Bw schütze“ (Grotstein 2008, S. 201; vgl. Bion 1962, S. 27). Bewusste und unbewusste psychische Phänomene werden durch die Kontaktschranke gleichzeitig voneinander geschieden und miteinander vereint, denn ihre selektive Durchlässigkeit ermöglicht einen Austausch zwischen den System Bw und Ubw. Diese selektive Durchlässigkeit der Kontaktschranke zwischen Bewusstem und Unbewusstem wird erzeugt und gestärkt durch die Alpha-Funktion, deren Aufgabe es ist, rohe Sinnesdaten (Beta-Elemente) in Alpha-Elemente umzuwandeln, die dann zum Denken und Träumen benutzt werden können. Die Alpha-Funktion umfasst sowohl den Primär- als auch den Sekundärvorgang mitsamt deren Funktionen in den Systemen Bw und Ubw (Grotstein 2004, 2007). Bion bezog in den Bereich der Alpha-Funktion sowohl das Lust- als auch das Realitätsprinzip mit ein; im Unterschied zu Freud (1911b) verstand er sie nicht als separate Prinzipien, sondern als binäre und normalerweise in beiden Systemen kooperativ operierende Gegensätze (Bion 1962, 1963, 1965). Vom Konzept der Kontaktschranke leitete Bion das der „ binokularen Sichtweise “ ab, einer auf doppelter Fokussierung beruhenden Fähigkeit, die der Kooperation zwischen bewussten und unbewussten psychischen Funktionen zugutekommt (Reiner 2012). So schreibt er: „Wir benötigen eine Art geistiges binokulares Sehen – ein Auge muss blind, das andere scharfsichtig sein“ (Bion 2010 [1990], S. 145). Das binokulare Sehen verleiht dem Erleben Tiefe und Resonanz und wird von Grotstein (1978) als eine Zweigleisigkeit verstanden, die es erlaubt, Phänomene, die sich im Laufe einer Analyse ereignen, zu erfassen: „Man kann die Systeme Ubw und Bw mit zwei Augen oder zwei Hirnhälften vergleichen, die von ihrem jeweiligen Standpunkt aus die Überschneidungen des stetig evolvierenden ‚O‘ erfassen“ (Grotstein 2004, S. 103). Diese binokulare Sehweise ermöglicht es dem Analytiker, dem, was er unter einer zweifachen reversiblen Perspektive – einer bewussten und einer unbewussten – sieht, Aufmerksamkeit zu widmen und zu

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