Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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versuchen, es zu verstehen. Dies wiederum erleichtert es, Dinge unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten (de Bianchedi 2001). Laut Grotstein (1997) war Bion überzeugt, dass wir als Analytiker uns sowohl unsere bewusste als auch unsere unbewusste psychische Aktivität zunutze machen müssen, um für „O“ als „absolute Wahrheit über die letzte Realität“ empfänglich zu sein. Aus dieser Konzeption ergibt sich ein theoretisches Verständnis des Unbewussten als System, das partiell mit „O“ in eins fällt, unkennbar und unbekannt ist, weil es sich der bewussten Reflexion entzieht. Die einzige Möglichkeit, Zugang zu ihm zu finden, besteht darin, in „O“ mit ihm in Resonanz zu kommen. Indem Bion das Konzept „O“ einführte und es mit dem Ding-an-sich und der „Unendlichkeit“ in Verbindung brachte, transportierte er das Konzept des Unbewussten in ein postmodernes Zeitalter des Verstehens: Es hängt „zusammen mit Unendlichkeits-, Chaos- und Komplexitätstheorie, mit Katastrophentheorie und Spiritualität“ (Grotstein 1997, S.84). Zu betonen ist, dass eine starke Korrelation zwischen der frühen Umwelt und der Möglichkeit, „O“ zu begegnen, besteht: Entscheidend dafür, dass das Baby/der Patient die Begegnung mit „O“ (Gaburri und Ambrosiano 2003) und mit der darin enthaltenen emotionalen Realität ertragen kann, ist die Qualität der primären Objekte und Gesprächspartner (und in der Analyse die Qualität der analytischen Haltung des Analytikers). Bion betrachtet O als den Bereich des „psychoanalytischen Objekts“, als die Richtung, in welche die analytische Untersuchung zielen sollte, auch wenn O niemals ganz und gar „gekannt“ werden kann. Diese Vision von etwas, das da ist, aber nur „intuiert“ oder „werden“ kann, weil es sich der Sinneswahrnehmung entzieht, erinnert epistemologisch an das Denken Platos, Kants und etlicher Mystiker. Insoweit die Elemente oder „Vorkommnisse“ des Os der eigenen Existenz nie umfänglich gekannt oder in Worte gefasst werden können, ist diese unaussprechliche Dimension des Seins definitionsgemäß unbewu sst. Der nicht kennbare „unbewusste“ Teil von O entspricht aber keineswegs dem Freud’schen dynamischen unbewussten Verdrängten. Es ähnelt eher den tieferen Schichten des Freud’schen Es , denn es ist emergierend, unstrukturiert, ungeformt. Wenn man überhaupt von „Elementen“ im Bereich O sprechen kann, könnte man sagen, dass sie aus sensorischen Störungen oder Turbulenzen bestehen, die noch nicht psychisch sind (sondern präpsychisch oder protopsychisch ). Bion hat die Inhalte von O nie benannt, wohl aber präpsychische, protomentale Phänomene beschrieben, die er als Beta-Elemente bezeichnete. Sie sind zum Denken ungeeignet und können auch nicht be-dacht werden, sofern oder solange sie nicht durch eine Art psychischer „Traumarbeit“ transformiert werden. Diese Aktivität bezeichnete er als Alpha- Funktion . Er war der Ansicht, dass sie eine zentrale Rolle in einem kontinuierlich, 24 Stunden täglich ablaufenden Prozess spiele, der „Wachtraumgedanken“ hervorbringe. Diese wiederum bestehen, so Bion, aus „Alpha-Elementen“, den Bausteinen der Gedanken, des Denkens und der psychischen Organisation. Sobald sie entstanden sind, werden sie zur Errichtung einer Barriere benutzt, die wiederum für die Verarbeitung (Mentalisierung) des Erlebens, für die Begrenzung des psychischen Raumes, für die

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