Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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erleichtert es dem Analytiker, sich auf die typischerweise unbewussten Interaktionsmuster abzustimmen (Fosshage 2011b). Durch das empathische Zuhören wird die Bedeutsamkeit der unbewussten Verarbeitung keineswegs bagatellisiert, im Gegenteil. Die klinische Erfahrung zeigt, dass das konzentrierte empathische Zuhören des Analytikers dem Sicherheitsgefühl zugutekommt, weil es dem disruptiven Einfluss entgegenwirkt, der sich bemerkbar macht, wenn der Analytiker seinen eigenen Blickwinkel zu behaupten versucht (was natürlich auch durch empathisches Zuhören nicht gänzlich verhindert wird). Weil mit dem gewonnenen Sicherheitsgefühl das Schutzbedürfnis nachlässt, erweitert sich der Reflexionsraum des Patienten; dies erleichtert das Bewusstwerden unbewusster widersprüchlicher und nicht-widersprüchlicher Intentionen, Erinnerungen und Verarbeitungsvorgänge einschließlich unvalidierter Erfahrungen (Stolorow und Atwood 1992), unformulierter Erfahrungen (D.B. Stern 1997) und impliziter Organisationsmuster (implizites Wissen). Implizites (Beziehungs-)Wissen besteht aus Interaktionen mit Bezugspersonen, die im prozeduralen Gedächtnis enkodiert werden und deshalb nicht verbalisierbar sind (D.N. Stern et al. 1998). Unformulierte Erfahrung besteht aus Kindheitserfahrungen, die nicht ins Bewusstsein gelangen konnten, weil sie von den Bezugspersonen nicht anerkannt wurden (D.B. Stern 1997). Das prä-reflektive Unbewusste besteht aus Prinzipien der Organisation subjektiver Erfahrungen , die ihren Ursprung in der frühen intersubjektiven Dyade haben, und aus dem unvalidierten Unbewussten , das in keiner Weise artikuliert werden kann, weil die Selbstobjekte ihm die Validierung versagt haben (Stolorow und Atwood 1992). Die Ähnlichkeit zwischen den Definitionen der unformulierten Erfahrung und des unvalidierten Unbewussten hängt also in erster Linie mit der Betonung der Reaktion der Bezugsperson zusammen. Das Zwei-Personen-Unbewusste wird unmittelbar in der Dyade konstruiert (Lyons- Ruth 1998, 1999). Mithin ist das empathische Verstehen des Analytikers geeignet, die Grenzen zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Explizitem und Implizitem aufzulockern. Es erleichtert den bewussten Zugang zu unbewussten Gefühlen, Intentionen, Gedanken und interpersonalen Interaktionen. III. D. Das Unbewusste in der französischen Tradition In den Jahrzehnten nach Freud entfaltete sich in Frankreich eine erstaunliche theoretische Energie und Fruchtbarkeit. Ausläufer dieser intellektuellen Explosion haben weitere französischsprachige psychoanalytische Gemeinschaften in Europa und Nordamerika beeinflusst. Auch die englischen Übersetzungen dieser Werke haben in bestimmten Teilen Nordamerikas und Großbritanniens ihren Einfluss geltend gemacht. Die französischen Analytiker haben eine gewisse Distanz zu den Objektbeziehungstheorien gewahrt und stets eine Sichtweise des Unbewussten vertreten, die der Freud’schen näher kommt. Sie möchten ihre Arbeit eher als eine Weiterentwicklung des Freud’schen Werkes oder als Dialog mit ihm verstanden wissen

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