Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Prozesse unbewusster Operationen. Selbst in seinen archaischsten Manifestationen ist das Unbewusste deshalb nie freie Triebenergie, sondern zutiefst geprägt durch die frühe Abhängigkeit des Menschen von bestimmten erwachsenen Anderen, die ihre Spuren hinterlassen. So schrieb Aulagnier (2001): „[…] damit die Wahrnehmungen und Sinneserfahrungen des Säuglings sowie seine Lust- und Unlustgefühle psychisch repräsentierbar werden können […] ist es unerlässlich, dass [sie] von der mütterlichen Psyche libidinös besetzt werden“ (S. XXI). Sie erwähnt auch, dass ihre Sichtweise Bions Konzept der Reverie der Mutter ähnelt. In Abgrenzung zum Konzept der „Implantation“ führte Laplanche (1999a, b, c) den Begriff der „Intromission“ ein, um eine gewaltsame Transmission unbewusster Sexualität, die keiner Verdrängung und sekundären Bearbeitung seitens der Erwachsenen unterzogen wurde, zu beschreiben. Eine weitere ähnliche Konzeptualisierung, die der Qualität der mütterlichen Präsenz bei der Konstruktion des Unbewussten Rechnung trägt, stammt von Christophe Dejours (2001). Wenn die Bezugsperson den Denkprozess des Kindes angreift, setzt sie laut Dejours die Verdrängungsfähigkeit außer Kraft. Das Ergebnis ist ein „a-mentales“ (gedanken-loses) Unbewusstes , dem die assoziative und elaborative Generativität des verdrängten Unbewussten fehlt. Eine weitere Variante der Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen dem Unbewussten und der Repräsentation stammt von dem französisch-kanadischen Analytiker Scarfone (2016a, 2016b). Ihn beschäftigte, dass in der englischen Sprache außer dem Wort „consciousness“ – Bewusstsein – auch das Wort „awareness“ – Bewusstsein, Gewahrsein – geläufig ist. Der Wortbestandteil „ware“ in „awareness“ hängt etymologisch mit der Fähigkeit zusammen, etwas im Blick zu behalten. Gleichwohl scheint „awareness“ nur ein erster Schritt in Richtung „consciousness“ zu sein, denn man kann einer Sache gewahr sein, ohne wirklich zu begreifen, um was es wirklich geht. Um sich etwas vollauf bewusst zu sein, muss Gewahrsein ergänzt werden um die Bedeutung dessen, dessen man gewahr ist. Laut Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache . Deshalb kann man sagen, dass das, dessen ich gewahr bin, mir nur bewusst ist, wenn es in Worten oder in Taten Verwendung findet. Umgekehrt bezeichnet „unconscious“ dasjenige, das innerhalb oder außerhalb des „awareness“ schlummert, aber weder in Gedanken noch in Taten willentlich verwendet wird . Französische Analytiker haben sich auch mit der für das Unbewusste charakteristischen Zeitlichkeit beschäftigt. Pontalis (2001) hat das Unbewusste als „diese Zeit, die nicht vergeht“, bezeichnet. In ähnlicher Weise schrieb Green(2002) über die vielfältigen Zeitlichkeiten, die ein und dasselbe Subjekt beherbergt, und insbesondere über „Zustände, in denen das Bewusstsein (und nicht nur das Unbewusste) keine Kenntnis von der Zeit zu haben scheint – das Leben in einer ewigen Gegenwart, unfähig, frühere Erfahrungen zu nutzen“ (S. 64). Ein weiterer Beitrag zu diesem Gebiet stammt aus dem französischsprachigen Teil Kanadas. Scarfone (2006, 2014a) vertrat die Ansicht, dass die Psychoanalyse nicht der Vergangenheit Aufmerksamkeit zolle, sondern vielmehr der „ Unvergangenheit “ des Individuums,

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