Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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und der kognitiven Neurowissenschaften beschränkten sich auf den engen Bereich der Wahrnehmung. In den Jahren, die seither vergangen sind, hat sich eine wahre Forschungslawine aufgetürmt, die zahlreiche Bereiche umspannt – Wahrnehmung, Gedächtnis, Emotionen, Motivation, Vorurteil, Sucht, Stimmung und Angststörungen, Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson, Autismus, Neglect –, und in all diesen Bereichen wurden (zumeist deskriptiv) unbewusste/nicht bewusste Faktoren identifiziert. Die anschließende Explosion in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und ihren Anwendungen, die vor allem in Nordamerika und in Europa zu verzeichnen war und weitere Unterspezialisierungen hervorbrachte – die dynamische Neuropsychologie (Luria 1966; 1973; Kaplan-Solms und Solms 2000), die dynamische Neurowissenschaft der Entwicklung (Balbernie 2001; Schore 2003; Siegel 1999, 2007), die Neurowissenschaft der Affekte (Panksepp 1999; Johnson 2006) und die dynamisch-kognitive Neurowissenschaft (Shevrin 1994, 1999; Villa, Brakel, Shevrin und Bazan 2008). Diese Entwicklung führte zur Gründung eines interdisziplinären Feldes, der Neuropsychoanalyse, die sich zur Aufgabe gesetzt hat, „die Dynamik der Psyche zu erforschen und die neurale Organisation ihrer unbewussten Substruktur zu identifizieren“ (Solms und Turnbull 2011, S. 135). Ein überaus bedeutsamer Befürworter der multidisziplinären Erforschung des dynamischen Unbewussten ist Eric Kandel (1998, 1999), der für seine physiologische Gedächtnisforschung den Nobelpreis erhalten hat. Kandel und Shevrin sind sich darin einig, dass das „dynamische Unbewusste“ mitsamt der Konflikthaftigkeit sexueller und aggressiver Impulse in den Neurowissenschaften zumeist nicht untersucht wird. Anlass zu beträchtlicher Verwirrung zwischen kognitiv orientierten Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern gibt die Tatsache, dass es sich bei Vorgängen, die die Neurowissenschaftler als „unbewusst“ bezeichnen, mehrheitlich um vorbewusste Prozesse handelt, die nach psychoanalytischer Terminologie lediglich latent und deskriptiv unbewusst sind. Auch bei anderen Definitionen sind Diskrepanzen zu verzeichnen, z.B. in Bezug auf Begriffe wie „Trieb“, „Instinkt“, „Konflikt“ usw. Zudem gibt es methodologische Differenzen, und zwar vor allem in Bereichen, in denen auf der Grundlage von Tierstudien Analogien gezogen oder Schlussfolgerungen formuliert werden, die auf Verhaltensbeobachtung und nicht auf der Untersuchung innerer Repräsentationen und unbewusster Phantasien beruhen. Gleichzeitig schienen die Fortschritte der neurowissenschaftlichen Erforschung der frühen Gehirnentwicklung, der Neuroplastizität und Neurokonnektivität die psychoanalytische Theorie der Persönlichkeit und ihre klinische Methode zu bestätigen. IV. Aa. Das dynamische Unbewusste in der Neuropsychoanalyse: Unbewusster Konflikt, „Repressivität“, Gedächtnis und frühe Entwicklung Shevrin et al. (1992, 1996) dokumentierten die erste bekannte neurowissenschaftliche Studie über das dynamische Unbewusste , in der die

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