Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Schon in den frühen Phasen des intra-uterinen Lebens sind sensorische Erfahrungen an der Herausbildung eines basalen emotionalen und affektiven Gedächtnisses beteiligt, das einen Eckpfeiler der Organisation früher Repräsentationen bildet (Mancia 1980, 1982; LeDoux 1992). Hier findet sich möglicherweise ein Mechanismus, der die Neurophysiologie des Gedächtnisses und das Freud’sche Konzept des Unbewussten überbrückt. Zudem wurden im Zuge der bemerkenswerten Erweiterung des ursprünglichen Konzepts des unbewussten Systems in „nicht bewusste“ Bereiche hinein weitere interdisziplinäre Annäherungen zwischen Kognitionswissenschaften, Neurobiologie und Neurowissenschaft postuliert (Bucci 2001). Der gewaltige Datenbestand, den die Hirnforschung über unbewusste Prozesse und Repräsentationen anlegen konnte, hat auch das psychoanalytische Verständnis des Unbewussten beeinflusst. Wenn Psychoanalytiker es mit einer Art von Wissen zu tun haben, das außerhalb des Gewahrseins bleibt, obwohl es nicht verdrängt wurde, bedienen sie sich deshalb immer häufiger der Terminologie dieser Disziplinen und sprechen vom „impliziten prozeduralen Wissen“ (Clyman 1991; Fosshage 2005). Von zentralem Stellenwert für dieses konzeptuelle Territorium – die Untersuchung relationaler, impliziter oder enaktiver Prozeduren und Repräsentationen – ist ein Entwicklungsmodell (sowie ein Modell der therapeutischen Veränderung), das mit aktuellen Erkenntnissen sowohl der Bindungsforschung als auch der Erforschung früher Mutter-Säugling-Interaktionen und der affektiven und kognitiven Neurowissenschaften übereinstimmt (Gabbard und Westen 2003; D.N. Stern et al. 1998). In diesem Kontext ist vorstellbar, dass sich auch das Modell der therapeutischen Veränderung in bestimmten psychoanalytischen Traditionen wandeln und sich nicht länger auf die Übersetzung unbewusster Repräsentationen in reflektiertes und symbolisiertes Wissen (oder Einsicht) oder die Transformation prozeduraler in symbolische Kodierung (Übersetzung vom Primär- in den Sekundärvorgang, von präverbalen in verbale Denkweisen) stützen wird, sondern auf eine neue Betonung des vermeintlich nicht konflikthaften, nicht symbolisierten impliziten oder prozeduralen Wissens (Boston Change Process Study Group 2007; Lyons-Ruth 1998, 1999). Dieses nicht verdrängte Unbewusste hängt mit der biologischen Ausstattung des Menschen zusammen: Es führt von frühen infantilen Erfahrungen, die noch nicht verdrängt werden können, zur Strukturierung eines Kernselbst und dem weiten „subjektalen“ Bereichs des Individuums. Die Beschreibung der Grundmerkmale des impliziten Gedächtnissystems wirft Licht auf Verbindungen zu den Grundannahmen der klinischen Arbeit und bestätigt die zentrale Rolle, die die Psychoanalyse der Beziehungserfahrung beilegt (Barnà 2007b, 2014); sie hat das Verständnis des Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehens dank der Berücksichtigung der symbolisierenden Transformationen im Traum, der Enactments und der Abstimmung auf die Prosodie der Sprache erheblich verändert (Mancia 2006). Auch diese Erkenntnisse bestätigen die „konstruktiven“ Aspekte der analytischen Beziehung (Freud 1937a), insbesondere die Verbalisierung unbewusster, durch empathisches Zuhören und Abstimmung rückgeschlossener Phantasien durch den Analytiker. Diese

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