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Konstruktion kann auch durch die Erörterung von Bedeutungen sowie der Sprache, in der sie ausgedrückt werden, erfolgen (Barnà 1990, 2007a). Anknüpfend an LeDoux‘ Studien über das implizite Zusammenspiel der mannigfaltigen Gedächtnissysteme bei akut traumatisierten erwachsenen Menschen wurden mehrere Langzeitstudien durchgeführt, um die Kenntnisse der neurobiologischen Konsequenzen früher Bindungserfahrungen zu vertiefen (Balbernie 2001; Siegel 1999; Schore 2003, 2006, 2007, 2010). Die Probanden waren Kinder, von denen manche frühe Traumata erlitten hatte, andere nicht. Die Ergebnisse stimmten im Großen und Ganzen mit Bowlbys These überein, dass die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress und Trauma lebenslang durch eine sichere Bindung gefördert, durch eine unsichere Bindung hingegen beeinträchtigt wird. Negative frühe Erfahrungen, die das erweiterte limbische System einschließlich des präfrontalen Kortex schädigen, können zur Folge haben, dass das Kind kognitive, emotionale und Verhaltensprobleme entwickelt, die seine spätere Anpassung in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter beeinträchtigen. Der präfrontale Kortext spielt für die grundlegenden Fähigkeiten der kognitiv-affektiven Verarbeitung eine herausragende Rolle. Dieses Areal vermittelt auch die ersten bindungsbezogenen Erfahrungen und emotionalen Erinnerungen (Siegel 1999; Balbernie 2001). Die wichtigste Botschaft der neurowissenschaftlichen Studien über die Hirnentwicklung lautet, dass „menschliche Verbindungen die neuralen Verbindungen prägen, aus denen die Psyche hervorgeht“ (Siegel 1999, S. 2). In den ersten drei Lebensjahren werden drei fundamentale kortikolimbische Schaltkreise, die für die Selbstregulation des Affekts zuständig sind, durch die Interaktionen mit den Bezugspersonen aktiviert und geprägt. Sie bilden fortan die Basis für die Art und Weise, wie wichtige Emotionen erlebt und gehandhabt werden. In diesem Kontext erforschte Schore (2003, 2007) auch die neurobiologischen Korrelate eines frühen Auftretens dissoziativer Vorgänge bei Kleinkindern, die sich an die rhythmische Struktur der dysregulierten Zustände ihrer Mütter – Hyperarousal und dissoziatives Hypoarousal – anpassten. Bindungstheoretisch formuliert, werden Bindungstransaktionen im impliziten/prozeduralen Gedächtnis niedergeschrieben. Vermittelt wird dieser Vorgang von der Amygdala (nicht vom Hippocampus, der an der Verdrängung und unbewussten Symbolisierung beteiligt und im ersten Lebensjahr noch nicht ausgereift ist), und führt zur Bildung überdauernder „Arbeitsmodelle“ aus enkodierten Reaktionsmustern auf Umweltschwierigkeiten und entsprechenden affektregulatorischen Coping-Strategien (Schore 2000, S. 35). Sobald es aktiviert wird, erzeugt das prozedurale Gedächtnis eine unbewusste Antizipation des künftigen psychischen Zustands. Siegel (1999) zufolge ist dies im Falle früher Traumata besonders relevant, weil „das wiederholte Erleben von Panik und Angst sich den Hirnschaltkreisen als psychischer Zustand einschreibt. Bei chronischem Auftreten sind diese Zustände fortan immer leichter aktivierbar (abrufbar); so werden sie zu Charaktereigenschaften des Individuums“ (S. 33). Die Synaptogenese und die axonale Myelinisierung sind erst im Laufe des zweiten Lebensjahres abgeschlossen. Nach dieser Phase der höchsten Neuroplastizität des
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