Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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die, in psychoanalytische Terminologie übersetzt, „Transformation von traumatischer Angst in Signalangst“. Zugrundeliegende dynamische Konflikte im Zusammenhang mit Trennung, psychischer Ohnmacht, Aggression, Annäherung-Vermeidung, Kampf- Flucht und ihren neurobiologischen Korrelaten (Unregelmäßigkeiten in der Aktivität der Amygdala und im präfrontalen Kortex) wurden in Echtzeit mit Hilfe bildgebender Verfahren nachgewiesen. Alexander, Feigelson und Gorman (2005) vertraten die Überlegung, dass der „Sitz der von Freud beschriebenen unbewussten Angsterinnerungen“ (S. 140) in der Interaktion zwischen Amygdala und Hippocampus zu finden sei. Sie erläutern die Kontinuität zwischen Freuds beiden Angstmodellen als theoretische Überstruktur, die das Verständnis solcher Probleme erleichtert. Otto Kernberg (2015) hat auf der Grundlage der Borderline- Persönlichkeitsstörung als Paradigma ein Modell der neurobiologischen Korrelate der Objektbeziehungstheorie formuliert. Anknüpfend an Wright und Panksepp (2014) sowie Krause (2012) und andere Autoren postuliert er, dass die vorrangigen primären Affekte in je unterschiedlichen Affektsystemen integriert werden. Solche vorrangigen primären Affekte tauchen in den ersten Lebenswochen und –monaten auf. Zu ihnen zählen Freude, Wut, Ekel, Überraschung, Furcht, Traurigkeit und sinnliche Erregung. Die Affekte gruppieren sich zu verschiedenen Systemen, nämlich zu einem erotischen, einem Spiel-Bindung-System [play-bonding], einem Kampf-Flucht-System, einem Bindungssystem [attachment], einem Separation-Panik-System und dem SEEKING- System (Wright und Panksepp 2014). Das SEEKING-System dient als basale unspezifische Motivation der Suche nach Stimulusgratifikation, die sich an jedes der übrigen Affektsysteme heften kann. Weil es nicht spezifisch ist, wird das SEEKING- System von manchen Autoren als moderne Variante des Freud’schen Triebs betrachtet (Johnson 2008). Panksepp und Kernberg zufolge erklärt das SEEKING-System, weshalb das Aggressions- oder das Affiliationssystem unter bestimmten Bedingungen exzessiv aktiviert werden können. Unter einem psychoanalytischen Blickwinkel werfen die Affekte, als primäre Motivationssysteme verstanden, Fragen nach dem Ausmaß auf, in dem Triebe durch die Integration entsprechender positiver („libidinöser“) und negativer („aggressiver“) Affekte konstituiert werden , sowie nach dem Ausmaß, in dem die Affekte Ausdruck dieser mutmaßlichen entsprechenden Triebe sind . Affekte initiieren die Interaktion zwischen dem Selbst und anderen Menschen, und die Verinnerlichung dieser Interaktionen (in Form affektiver Erinnerungen) prägt (bindungstheoretisch formuliert) die internalisierten Verhaltensmodelle oder (in der Terminologie der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie ausgedrückt) die internalisierten Objektbeziehungen. Positive und negative Affekte operieren getrennt voneinander und aktivieren Hirnstrukturen. Eine Integration positiver und negativer Affekte erfolgt lediglich auf einer höheren Ebene der limbischen Strukturen und setzt die Interaktion zwischen Kortex und limbischem System voraus. Die allmähliche Integration emotional gegensätzlicher Affektzustände bahnt einem integrierten Selbstgefühl und einem Gewahrsein getrennter Objekte den Weg; mit dieser Entwicklung einer „normalen Ich-Identität“ kann eine Veränderung von der Borderline-Persönlichkeitsorganisation zur neurotischen Persönlichkeitsorganisation

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