Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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stattfinden, die durch die Verlagerung von primitiven, auf Spaltungsprozessen beruhenden Abwehroperationen hin zu fortgeschrittenen, auf der Verdrängung beruhenden Abwehrmanövern gekennzeichnet ist. Diese fortgeschrittene Ebene der Persönlichkeitsentwicklung findet Ausdruck in einer klaren Abgrenzung eines verdrängten dynamischen Unbewussten oder Es. Konstituiert wird es durch nicht akzeptable internalisierte dyadische Beziehungen, die unerträgliche primitive Aggression und Aspekte der infantilen Sexualität widerspiegeln. IV. Ac. Weitere Bereiche des neuropsychoanalytischen Interesses: dynamische Implikationen neurologischer Schädigungen, Traumforschung, Symbolisierung, Triebe und Affekte Mark Solms (200a; Kaplan-Solms und Solms 2000) begründete ein Paradigma der psychoanalytischen klinischen Beobachtung, indem er eine Gruppe von Patienten mit Läsionen im rechten Scheitellappen untersuchte. Er hatte entdeckt, dass das „kognitive Defizit“, das man solchen Patienten zuschrieb, wichtige dynamische Ursachen haben kann, die bewirken, dass kognitive Prozesse zum Teil unbewusst werden. Durch psychoanalytische Intervention war es möglich, den betreffenden dynamischen Prozess umzukehren und diese – durch primitive Abwehrmechanismen dynamisch aus dem Bewusstsein verbannten – Kognitionen ins bewusste Gewahrsein zurückzuholen. Solms entdeckte, dass diese dynamisch vermittelte, mit Läsionen des rechten Parietallappens korrelierte Selbsttäuschung auf eine komplexe regressive narzisstische Konfiguration, das Vermeiden depressiver Gefühle und eine verminderte Fähigkeit, Beziehungen zu „ganzen Objekten“ zu unterhalten, zurückzuführen war. Die theoretischen Grundlagen und die Methodik dieser und ähnlicher Studien wurden von Rachel Blass und Zvi Carmeli (2007, 2015; Carmeli und Blass 2013) sondiert; diese Autoren stellen Solms’ Thesen kritisch infrage. Andere spezifische neurologische Läsionen mit typischen Folgeerscheinungen wie Regressionen und dynamisch veränderten Bewusstseinszuständen wurden von Wilner und Aubé (2014) erforscht sowie von Buszáki (1996) und Uhlhaas et al. (2009). Weitere Themen der neuropsychoanalytischen Untersuchungen des dynamischen Unbewussten sind Traumvorgänge (Solms 1997, 2006b), spezifische Parameter der Symbolisierung im Primärvorgang (Shevrin 1997) und die Neurobiologie der Triebe und Affekte (Panksepp 2011; Wright und Panksepp 2014; Kernberg 2015; Johnson 2008). Die Beziehung zwischen den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse ist Gegenstand lebhafter Debatten. Die Verbindung/Übersetzung zwischen beiden Disziplinen wirft eine Reihe epistemologischer, ontologischer, methodologischer und klinischer Fragen auf, die das Leib-Seele- oder Hirn-Seele-Problem im Allgemeinen und den interdisziplinären Diskurs generell betreffen. Wie eine solche Verbindung funktionieren könnte, hängt auch damit zusammen, was Analytiker als wesentlich für die psychoanalytische Arbeit betrachten. Ebenso wie im Fall anderer interdisziplinärer

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