Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Studien wird auch die Anwendbarkeit neurowissenschaftlicher Untersuchungen kontrovers diskutiert. Schon in der Vergangenheit haben sich Autoren unter den verschiedensten Blickwinkeln mit dem Thema auseinandergesetzt, zum Beispiel Freud (1940), Winnicott (1949), Alexander (1936, 1964), McDougall (1974, 1993), Green (1999) und in jüngeren Jahren Hinshelwood (2015), Pulver (2003), Blass und Carmeli (2007, 2015), Carmeli und Blass (2013), Yovell, Solms und Fotopoulou (2015), Albertini (2015), Scarfone (2014b) und viele andere. Zahlreiche Analytiker halten es für hilfreich, sich über die Entdeckungen auf bestimmten psychoanalytisch interessanten Gebieten zu informieren, zum Beispiel über neurobiologische Korrelate früher Traumatisierungen und deren partielle Reversibilität infolge psychoanalytischer Behandlung (Kernberg 2015; Blum 2003, 2008, 2010; Mancia 2006a, 2006b; Busch, Oquendo, Sullivan und Sandberg 2010). Canestris (2015) Anregung, über „Schnittstellen zwischen Disziplinen“ zu sprechen, „die sich sprachlich, methodisch und epistemologisch voneinander unterscheiden“ (S. 1576), soll es allen Seiten ermöglichen, einander zuzuhören.

IV. B. Das Gruppenunbewusste IV. Ba. Theoretischer Kontext

Freud hat sich in mehr als 20 Schriften mit unbewussten Prozessen und Inhalten auseinandergesetzt, die dem Verhalten in Gruppen, Kulturen und Gesellschaften zugrunde liegen. Besonders hervorzuheben sind Totem und Tabu ( Freud 1912-1913), ein Buch, in dem er den Ödipuskomplex in einer Gruppe und auf sozialer Ebene darstellt, sowie Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud 1921). Hier untersucht er Gruppenregressionen sowie primitive projektive und identifikatorische Prozesse, nämlich die Projektion des Über-Ichs (Ich-Ideals) der Masse auf den Führer , durch die sich die Gruppenmitglieder von moralischen Einschränkungen ihrer Triebstrebungen, vor allem der aggressiven, befreien; außerdem analysiert er die wechselseitigen Identifizierungsprozesse zwischen den Mitgliedern und dem Führer, libidinöse Bindungen , die ein Gefühl der Zugehörigkeit und Stärke fördern. In Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1930) steht die Freisetzung von zuvor unbewussten, gegen „andere“ Gruppen gerichteten aggressiven, sadistischen, destruktiven Impulsen im Mittelpunkt der Untersuchung. Wenngleich die Formulierungen und der Fokus von Freuds Verständnis des Gruppenunbewussten sich mit der Weiterentwicklung seiner Theorie veränderten, blieb die Grundannahme dieselbe: Die Motivationskraft hinter historisch- gesellschaftlichen Entwicklungen, hinter kulturellen Fehlschlägen und Erfolgen ist der Antagonismus zwischen den Erfordernissen der triebhaften Natur und den reaktiven restriktiven, von der Gesellschaft auferlegten Kompromissbildungen, die zu einem progressiven Verzicht auf das Ausagieren der (aggressiven wie auch erotischen/sexuellen) Triebstrebungen führen. Gemäß dieser Sichtweise sind mehr oder weniger erfolgreiche Kompromisse, die sich im dynamischen Zusammenspiel der unbewussten und bewussten Motive und bestärkt durch die Gruppen herausgebildet

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