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IV Be. Organisations- und Sozialdynamik; Psychohistorie Anwendungsbereiche wie die Organisations- und Sozialdynamik sowie das interdisziplinäre Feld der Psychohistorie oder psychohistorischen Forschung arbeiten mit den oben erläuterten Konzepten, um das Funktionieren von Großgruppen innerhalb längerer Zeiträume und in bestimmten Regionen zu verstehen. Ein Beispiel aus der Erforschung der sozialen Dynamik ist Morris Nitsuns (1996) Konzept der „ Antigruppe “, ein Resultat unbewusster destruktiver Elemente , die das Funktionieren der Gruppe gefährden ; dabei kann es sich um Therapiegruppen, Gruppen in Organisationen oder Institutionen oder um einen makrosozialen Gruppenkontext handeln. In Nordamerika hat vor allem das Feld der Psychohistorie eine lange Tradition, denn schon zu Beginn des 20. Jahrhundert wurden die psychoanalytischen Konzepte hier für das Verständnis makrosozialer Vorgänge nutzbar gemacht. Die ersten Aufsätze über psychohistorische Themen erschienen bereits 1909 im allerersten Heft des Journal of Abnormal Psychology. Als Pioniere weiterer umfangreicher Forschungen auf diesem Gebiet gelten u.a. Robert J. Lifton (1993), Lloyd de Mause, der Gründer des Journal of Psychohistory , und Paul Elovitz, Herausgeber der Zeitschrift Clio’s Psyche . Ein aktuelles Beispiel für psychoanalytische psychohistorische Forschung sind Eva Papiasvilis und Linda Mayers Konzept einer „transzendentalen Konfiguration“, dem gemäß sich der Zugang zum Infantilen, Irrationalen und Magischen sowie dessen Transformation im Mittelalter als unverzichtbare Ressource für die Überwindung von Traumata gewaltigen Ausmaßes erweist (Papiasvili und Mayers 2013, 2014, 2016). Nitsun (1996) sowie Papiasvili und Mayers (2013) betonen das grenzenlose destruktive und kreative Potential der irrationalen und regressiven, gleichwohl belebend und regenerierend wirkenden unbewussten Inhalte und Prozesse der Gruppe .
V. SCHLUSSBETRACHTUNG
Heute, zu Anfang des 21. Jahrhunderts, stehen uns auf allen drei psychoanalytischen Kontinenten zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, um das Unbewusste zu verstehen. Innerhalb dieses Pluralismus der Konzepte geben sich wichtige regionale Strömungen deutlich zu erkennen. In Europa begründeten französische Analytiker den Trend „ Zurück zu Freud “, indem sie seine Schriften erneut kritisch lasen und die klassischen Konzepte dekonstruierten, um damit zu arbeiteten. In der französischen Tradition spielen die absolute (nicht hintergehbare) Trennung zwischen dem Vorbewussten/Bewussten und dem Unbewussten sowie die Verbindung des Unbewussten mit dem Sexualtrieb [ sexual drive ] (den es vom Begriff des Instinkts [instinct] zu unterscheiden gilt) eine herausragende Rolle. Bestimmte Strömungen dieser Denktradition gehen davon aus,
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