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Klinische Konzepte wie z.B. das von Elizabeth Zetzel beschriebene therapeutische Bündnis und Ralph Greensons Arbeitsbündnis spielen in der lateinamerikanischen psychoanalytischen Praxis eine wichtige Rolle, da sie die Qualität und den Charakter der psychoanalytischen Beziehung ins Zentrum rücken. Einhergehend mit der zunehmenden Verbreitung der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gerieten Eriksons Konzepte des Grundvertrauens , der Tüchtigkeit und des Strebens nach Autonomie vermehrt in den Blick. Merkwürdigerweise aber werden sie nicht als ich-psychologische, sondern als entwicklungspsychologische Konzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betrachtet. Aufgrund von Missverständnissen und wegen eines kulturell-historischen „amerikanischen Stigmas“, nämlich der Verwechslung der Ich-Psychologie mit einer kognitiven Psychologie, wurden ich-psychologische Konzepte wie Widerstand, Aufmerksamkeitssteuerung und Deutung der Abwehr in eine zeitgenössische synthetische Version der entwicklungspsychologischen Ich-Psychologie integriert, die eine aktualisierte Version von Mahlers Separation/Individuation in Daniel Sterns (1985) Konzeptualisierungen, z.B. der Affektabstimmung, miteinschließt . Autoren wie Hartmann, Loewenstein und andere bleiben hingegen unberücksichtigt. Die Vorstellegung, dass die Psychoanalyse ausschließlich die innere Welt betrifft, weicht möglicherweise einer in höherem Maß integrierten oder zeitgenössischen Psychoanalyse, die sich auch einer größeren Bandbreite an Pathologien widmet. Das Thema Immigration spielt zweifellos weltweit eine große Rolle, doch in Lateinamerika gab es viel Leid, und die Arbeit mit Immigranten beruht vorwiegend auf ich-psychologischen und soziokulturellen Konzepten. Entwicklungskonzepte wie Mahlers Trennungsangst in der Wiederannäherungssubphase der von ihr beschriebenen Separation/Individuation, die Notwendigkeit der Objektkonstanz und Eriksons Grundvertrauen vs. Misstrauen sowie die (Neu-)Formierung der Ich-Identität haben heute ergänzend zu Sterns Affektabstimmung eine elementare Bedeutung. Glen Gabbards (2009) klärende Erörterung dreier wichtiger psychoanalytischer Paradigmen – der Ich-Psychologie, der Objektbeziehungstheorien und der Selbstpsychologie – sowie ihres Hervorgehens aus der ursprünglichen, klassischen analytischen Theorie gewinnt auf dem gesamten Kontinent zunehmend an Einfluss. Dies gilt in gleichem Maße für Robert S. Wallersteins (2002) „Growth and transformation of American ego-psychology“, eine Abhandlung, die die zeitgenössische Ich-Psychologie / Strukturtheorie mit der Objektbeziehungstheorie und Elementen der Selbstpsychologie zusammenführt. Durch diese Arbeit lernten lateinamerikanische Analytiker die Entwicklung der Ich-Psychologie von Hartmann bis zum heutigen Pluralismus der Theorien des komplexen post-freudianischen Denkens in Nordamerika kennen. Die von Wallerstein dargelegte Perspektive, die eine Brücke zwischen den Ich-Prozessen einschließlich des Realitätsprinzips auf der einen und dem sozialen Leben auf der anderen Seite schlagen soll, klingt heute in wichtigen Richtungen des lateinamerikanischen psychoanalytischen Denkens und Arbeitens an.
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