Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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dieser Konzepte unterschieden. Die Geschichte unserer Profession beginnt in Zentren (Wien, London, Paris), und wenn sie sich auf die Peripherie erweitert, tauchen neue Phänomene auf. Dies gilt umso mehr, wenn sie die Weltmeere quert. Die erfolgreiche Expansion der Psychoanalyse steht dabei in engem Zusammenhang mit weiteren Faktoren. Auch wenn Lateinamerika in Europa Inspirationen findet, ist es doch keine Kopie des alten Kontinents. Die lateinamerikanische Psychoanalyse hat sich innerhalb der lokalen Kultur entwickelt, sich allmählich verändert und mit kulturellen Einflüssen vermischt. Sie versuchte stets, in den Universitäten und Kliniken Fuß zu fassen, und ist eng verbunden mit politischen und gesellschaftlichen Bewegungen. In Lateinamerika in einem Krankenhaus oder in einer Praxis zu arbeiten ist nicht das Gleiche wie in Europa. Der sozio-ökonomische Hintergrund lateinamerikanischer Analytiker ist sehr breit gefächert – die Skala reicht von freiberuflich Tätigen mit eigener Praxis bis zu Kollegen, die als schlecht bezahlte Angestellte von Versicherungsgesellschaften arbeiten und häufig auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen sind. Das (mitunter gewalterfüllte) Eindringen des sozialen Lebens in unsere Praxen ist unvermeidlich. Aus diesem Grund waren viele Analytiker, die vor Jahrzehnten praktizierten, schon damals Intersubjektivisten und ihrer Zeit voraus, denn sie widmeten dem Kontext, den sie als erweitertes psychoanalytisches Feld verstanden, große Aufmerksamkeit. Die Art und Weise, wie sie mit Patienten arbeiten, würde es heute rechtfertigen, sie als Intersubjektivisten zu bezeichnen, auch wenn ihnen die einschlägigen Autoren unbekannt waren. Zur Zeit begegnen viele Analytiker, die sich mit einem der mannigfaltigen theoretischen Bezugsrahmen (Lacanianer, Neo- Kleinianer, Meltzerianer oder Freudianer) identifizieren, ihren Patienten ungeachtet ihrer theoretischen Sichtweise mit einer klinischen Haltung, die der eines intersubjektivistischen Analytikers nahe kommt.

III. ENTWICKLUNGEN SPEZIFISCHER PERSPEKTIVEN

III. A. Spezifische Perspektiven in Nordamerika: vorwiegend USA In den USA versteht man unter Intersubjektivität als psychoanalytischer Orientierung eine Theorie, mit der sich die Einflüsse, die auf zwischenmenschliche Beziehungen einwirken, erklären lassen. Der Begriff wird in der Säuglings- und Kleinkindentwicklung angewandt (Trevarthen, Stern), um die wechselseitig koordinierte, ko-kreierte Reaktivität und Responsivität in der Interaktion von Bezugsperson und Säugling zu erklären, die der Entwicklung des Kindes zuträglich ist (Beebe, Lachmann). Er wird auch benutzt, um das Zusammenspiel der Subjektivitäten von Analytiker und Analysand zu erklären. In diesem Zusammenhang verwendet,

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