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Konzeptualisierung erfuhr zwei bedeutsame Revisionen. Zum einen rückte eine erfahrungsnahe Theorie an die Stelle der Betonung der Sprache sowie der Konzepte der Strukturtheorie ( Lichtenberg 1975, 1979, 1992). Indem die Selbstpsychologie sich dem Selbstgefühl, der Objektwahrnehmung und einer belebenden, Kohäsion stiftenden Selbstobjekterfahrung zuwandte, knüpfte sie an die Subjektivität der Intersubjektivität an. Die zweite weit reichende Revision war Stolorows (1997) Konzeptualisierung der Intersubjektivität. Mit Anleihen bei der Philosophie, vor allem bei Husserl, führte Stolorow die Intersubjektivität als ein allgemeines Prinzip ein, das für die menschliche Bezogenheit unverzichtbar und ihr inhärent ist. Die gesamte Entwicklung vollzieht sich demnach innerhalb eines intersubjektiven Feldes , eines Schnittbereichs individueller Subjektivitäten. In ihrer allgemeinsten Formulierung „bezeichnet Intersubjektivität weder einen Erfahrungsmodus noch ein gemeinsames Teilen von Erfahrung, sondern vielmehr die kontextuelle Voraussetzung dafür, dass man Erfahrungen überhaupt machen kann“ (Stolorow 2013, S. 385). Die Säuglingsforschung (Beebe & Lachmann 2002) und die entwicklungspsychologischen Theorien bestätigen, dass die intersubjektiven Interaktionen zwischen der Bezugsperson und ihrem Säugling das Muster und die Tönung der Bezogenheit vorgeben. Weniger allgemein formuliert, dient Intersubjektivität als Erklärung der splitsekündlichen Veränderungen der Affekte, Intentionen und Ziele beider Individuen in einer dyadische, triadischen oder Gruppenbeziehung. In der analytischen Therapie erklärt die Intersubjektivität das Zusammenspiel der Subjektivitäten von Analytiker und Analysand. Mit ihr verschiebt sich die traditionelle Betonung der Übertragung und Gegenübertragung auf einen erweiterten Ausdruck des subjektiven Erlebens des Analytikers. Diese Neudefinition seiner Rolle in der dyadischen Beziehung erzeugt eine „stärker reziproke (wenngleich weiterhin asymmetrische) Subjekt-Subjekt-Intimität“ (Lichtenberg, Lachmann und Fosshage 2016, S. 86f.). Unter der Subjektivität in der Intersubjektivität versteht man das Gewahrsein, welches das Individuum von seinen Affekten, Intentionen, Zielen, Perspektiven und seinen Gedanken über sich selbst und andere hat. Zudem beruht die Intimität zweier Subjekte, wie sowohl die Selbstpsychologie als auch die Bindungstheorie betonen, auf der Fähigkeit beider Beteiligter, sich in den inneren Zustand, den Blickwinkel und die Bestrebungen des Anderen hineinzuversetzen (Empathie, vgl. Kohut 1971, und zu mentalisieren, vgl. Fonagy, Gergely, Jurist und Target 2002). Gleichzeitig ist sie für diese Fähigkeit unabdingbar. Die Intersubjektivität hilft nicht nur, die empathische Wahrnehmung, sondern auch drei weitere für die Selbstpsychologie zentrale Konzepte zu erklären: die Fokussierung auf adaptive Strebungen, die Unterbrechungs-Wiederherstellungssequenzen und die Atmosphäre, die sich im Feld entwickelt. Die Selbstpsychologie setzt bei der Untersuchung der Entwicklungen, die sich im intersubjektiven analytischen Feld vollziehen, vorzugsweise bei den positiven Strebungen des Patienten an (der „leading edge“),
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