Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

III. Cb. Die intersubjektiv relevante “Dritte Topik”/ das “Dritte Modell” Französische Analytiker (Brusset, 2005, 2006) benutzen den Begriff der „dritten Topik“ oder des „dritten topographischen Modells“, kurz: des „dritten Modells“ [siehe den Eintrag OBJEKTBEZIEHUNGSTHEORIEN], um unter einer metapsychologischen Rubrik retrospektiv die Schriften einer Reihe post-freudianischer Autoren zu versammeln, die die Beziehung zu frühen Bezugspersonen als Voraussetzung für den Erwerb eines psychischen Apparates beschrieben haben, der gemäß einem der beiden Freud’schen Modelle des psychischen Apparates operieren kann. (Das erste – Freud 1900 – ist das topische Modell mit seiner Unterscheidung zwischen Bewusstem, Unbewusstem und Vorbewusstem, deren Aktivität jeweils eigenen Regeln gehorcht; das zweite – Freud 1923, 1926 – ist das Strukturmodell, das den psychischen Apparat in Es, Ich und Über-Ich teilt.) Nordamerikanische französischsprachige Analytiker beziehen in diese Gruppe auch zwei englischsprachige Autoren, nämlich Winnicott und Loewald, ein. Die „dritte Topik“/das „dritte Modell“ postuliert, dass die Zwei-Personen- Psyche der von Freud beschriebenen psychischen Autonomie von Trieb, Abwehr und intrapsychischer Phantasie der Eine-Person-Psyche in der menschlichen Entwicklung vorausgeht. Während das erste und das zweite Modell benutzt wurden, um die neurotische Erkrankung als einen Krieg der Psyche mit sich selbst zu beschreiben, beschreibt das „dritte Modell“ einen Zustand in der Vorgeschichte des Individuums, in der die Psyche nicht durchgehend fähig war, innerhalb ihres Repräsentationszirkels zu operieren und Repräsentationen als solche zu beurteilen. Sie ist zunächst vom Nebenmenschen (Freud 1895) abhängig, der dafür sorgt, dass sie durch innere und äußere Reize nicht überwältigt wird. Indem die Bezugsperson die Stimulierung des Babys moduliert und die Funktion einer Reizschranke erfüllt, ermöglicht sie es dem Kind, nach und nach libidinöse wie auch aggressive Impulse als nicht-traumatische Anteile seiner selbst anzuerkennen. So beschreibt das dritte Modell eine Zeit im Leben des Individuums, die der Entwicklung der von den beiden übrigen Modellen erfassten Konstellationen vorausgeht. Das dritte Modell entstand in der Theoriebildung als letztes, betrifft aber die allererste Situation im Leben des Menschen. Unter dem Blickwinkel des unbewussten Subjekts betrachtet, könnte man sagen, dass Personen im neurotisch-normalen Bereich ein „inneres“ Leben haben, während Borderline-Persönlichkeiten und Psychotiker weder ihre Triebe noch ihre Phantasien als „innere“ erleben. Um vom Denken des Primärvorgangs, in dem Wünsche als erfüllt wahrgenommen werden, dahin zu gelangen, dass Wünsche in einem Übergangsraum der Wahrheit und Unwahrheit erlebbar werden, ist die Intervention einer hinreichend guten Bezugsperson als vorübergehende Prothese oder vorübergehender Container erforderlich. Das Leben eines jeden Menschen beginnt demnach in einer Zwei- Personen-Situation, in der das Baby und seine Umwelt eine operative Einheit bilden. Erst im Laufe der Zeit und mit beträchtlicher (gewöhnlich unbewusster) psychischer Arbeit beider Beteiligter kann eine relative intrapsychische Eine-Person-Autonomie hergestellt werden. Dies wird als eine ideale universale Entwicklung verstanden, die

245

Made with FlippingBook - Online magazine maker