Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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den Zugang zum subjektiven Erleben eines Anderen erlangt werde. Eine solche Situation impliziert psychische Interaktivität , ein Konzept, das er mit dem Terminus „Co-Denken“ zusammenfasst (Widlöcher 2004, 2014a, 2014b).

III. Cd. Französische Sichtweisen: Intersubjektivität in der Psychoanalyse Frankreichs In Frankreich wird der Begriff Intersubjektivität von Psychoanalytikern seit relativ kurzer Zeit und oft im Zusammenhang mit der Frage nach der Behandlung von Borderline-, narzisstischen und psychotischen Patienten verwendet. „Intersubjektivität“ wurde in der Vergangenheit als deskriptiver Begriff vorwiegend in der Psychologie verwendet, war aber in der Psychoanalyse nicht wirklich anerkannt. Die französische Konzeptualisierung der Intersubjektivität unterscheidet sich von den amerikanischen in der Ich-Psychologie (Hartmann, Kris, Loewenstein), in der Theorie des Selbst (Kohut- Schule) oder der Theorie der Objektbeziehungen (Jacobson, O.F. Kernberg). Viele französische Autoren bevorzugen anstelle von „Intersubjektivität“ den Begriff des Interpsychischen. Die Konzeptualisierung der Intersubjektivität stammt aus der Untersuchung der Übertragungs-Gegenübertragungssituation in der Sitzung. Das große Interesse der französischen Psychoanalyse an der Metapsychologie veranlasste die meisten Psychoanalytiker, am Triebkonzept festzuhalten und über die Verbindung zwischen Trieb und Objekt nachzudenken. Bestimmt wird dieses Interesse weiterhin durch Freuds Werk und die Auseinandersetzung mit seinen beiden Metapsychologien. Selbst wenn der Beitrag des Objekts zur psychischen Strukturbildung in der französischen Psychoanalyse seit langem anerkannt wird, bezeichnet der Begriff „Intersubjektivität“ in Frankreich heute lediglich die Begegnung zwischen zwei Subjekten, Patient und Analytiker, in der Behandlung. III. Cda. Das Ich, das Selbst, das Subjekt und das Objekt Die Voraussetzung für die Einführung der Intersubjektivität schuf in den 1950er Jahren Lagache, der den Begriff in Bezug auf die analytische Situation als psychologische Beschreibung benutzte, ohne ihn theoretisch zu erörtern. Lacan, der für die Freud-Lektüre und die Rückkehr zu Freud eintrat, interessierte sich stärker für die Frage nach dem Subjekt als für die Intersubjektivität. Subjektivität und Intersubjektivität waren in seinen Augen keine psychoanalytischen Begriffe. Sein zentrales Konzept war „das Subjekt des Unbewussten“. Zu erwähnen ist eine Schwierigkeit der Freud-Lektüre, die mit der Übersetzung ins Französische zusammenhängt. Ein Aspekt bezüglich der Freud’schen Denkweise ist hier wichtig. Das Problem war und ist erstens die Frage, wie „Ich“ ins Französische zu übersetzen ist. Man wählte „moi“ (englisch „ego“), doch diese Entscheidung ist nicht

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