Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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sowohl auf den Konflikt als auch auf das Defizit fokussiert. Manche Theorien privilegieren tendenziell das Defizitmodell. So betont die Selbstpsychologie Defizite des Selbst als Resultat einer unzulänglichen Empathie der Elternfiguren. Das empathische Verstehen des Analytikers sowie die Deutung des Konflikts werden demnach zu zentralen Komponenten der therapeutischen Wirkung der Analyse (Kohut 1984). Andere Autoren, zum Beispiel Repräsentanten der relationalen oder interpersonalen Schulen, betonen statt des inneren Defizits und Konflikts (Auchincloss und Samberg 2012), dass der intrapsychische Bereich in einer Beziehung zu anderen Menschen innerhalb der größeren Kultur hergestellt wird (Ingram 1985). Auchincloss und Samberg, die Herausgeber des Wörterbuchs Psychoanalytic Terms and Concepts, einer aktuellen Publikation der American Psychoanalytic Association, erläutern, dass zeitgenössische psychoanalytische Schulen den Entwicklungsaufgaben und –schwierigkeiten in ihrer Beziehung zu Konflikten wachsende Bedeutung beilegen. Konflikte entstehen im Laufe der Entwicklung in Reaktion auf eine Abfolge vorhersehbarer, phasenspezifischer unbewusster Bedrohungen, der sogenannten inneren Gefahrsituationen. In der normalen frühen Entwicklung tauchen prä-ödipale Konflikte zwischen dem Kind und seiner Umgebung auf, zwischen widersprüchlichen Wünschen und Gefühlen sowie zwischen den Vorläufern des Über-Ichs und den Trieben. Die Bedrohung, der sich das Kind in prä-ödipalen Konflikten ausgesetzt fühlt, ist die phantasierte Gefahr, das Objekt und die Liebe des Objekts zu verlieren. Ödipale Konflikte von höherer Komplexität zeigen, dass das Kind mittlerweile triadische Beziehungen führen kann, und geben auch weitere Aspekte der Ich-Reifung und - Entwicklung zu erkennen. Auf der ödipalen Stufe ist die vom Kind wahrgenommene Bedrohung die phantasierte Gefahr der Verletzung (Kastrationskomplex). Im weiteren Verlauf werden die verbietenden Kräfte, die ursprünglich mit der elterlichen Kontrolle assoziiert sind, durch Internalisierungs- und Identifizierungsprozesse zu Kräften innerhalb des psychischen Apparates des Kindes selbst. Eine solche Entwicklung findet Ausdruck in der Über-Ich-Bildung, einem Entwicklungsmeilenstein, der die Bewältigung des Ödipuskomplexes voraussetzt. Auf dieser Stufe ist die vom Kind wahrgenommene Gefahr die innere Verurteilung durch das eigene Über-Ich. Während manche Konflikte sich im Laufe der Entwicklung auflösen, bleiben andere lebenslang bestehen und ziehen eine mal mehr, mal weniger schwere Psychopathologie nach sich. Die Manifestation des Konflikts variiert entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe, der Psychopathologie und den kulturellen Faktoren. Kinderpsychoanalytiker beschreiben außerdem Entwicklungskonflikte, die normal, vorhersehbar und zumeist vorübergehender Art sind (Tyson & Tyson 1990). Dabei handelt es sich um Konflikte mit der Umwelt, die durch normative, phasenspezifische Reifungsfaktoren ausgelöst werden. Wenn die Internalisierung der äußeren Gebote und Verbote abgeschlossen ist, ist auch dieser spezifische Entwicklungskonflikt bewältigt. Ein weiterer Schritt zur Struktur- und Charakterbildung wurde getan (Tyson & Tyson 1990, S. 42f.).

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