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III. B. Ich-psychologische Perspektiven Die psychoanalytischen Modelle, die dem Konflikt größere Bedeutung beimessen, sind diejenigen, die auch die Rolle des Ichs und der Triebe betonen, also zum Beispiel das klassische Modell und die Ich-Psychologie. Von besonders hohem Stellenwert ist der Konflikt für den modernen Erben der Ich-Psychologie, die sogenannte Moderne Konflikttheorie. Ihre Repräsentanten weichen insofern von Freuds Strukturtheorie ab, als sie vorrangig auf die Kompromissbildungen zwischen Triebabkömmlingen, Ängsten, Abwehrmechanismen und Über-Ich-Anforderungen fokussieren. Der Kompromiss ist Resultat eines Konflikts. Ebenso wie Konflikte sind auch Kompromisse allgegenwärtig, denn jeder Teil der Psyche, so die Theorie, strukturiert sich um eine Kompromissbildung herum – mithin um einen Konflikt. Moderne Konflikttheoretiker verstehen die psychische Entwicklung weniger als Herausbildung der von Freud beschriebenen klassischen dreiteiligen Struktur (Es, Ich und Über-Ich) denn als eine Serie von Kompromissbildungen. Das Ziel der psychoanalytischen Behandlung besteht demnach darin, dem Patienten zu helfen, seine unbewusste Konflikte anzuerkennen und sich klar zu machen, wie er Triebabkömmlinge, die auf unbewussten, aus der Kindheit stammenden Ängsten beruhen, abwehrt. Der Analytiker wiederum hat die Aufgabe, eine psychoanalytische Situation zu strukturieren, die das Auftauchen unbewusster Konflikt und Abwehrmaßnahmen unterstützt, und das unbewusste Material zu deuten, um dem Patienten zu helfen, zu besser angepassten Kompromissbildungen zu finden (Abend 2005, 2007; Arlow 1963; Brenner 1982, 2002; Druck et al. 2011; Ellman et al. 1998). Zu den Vertretern der Ich-Psychologie zählten ursprünglich insbesondere Anna Freud sowie Heinz Hartmann und seine Mitarbeiter Ernst Kris, David Rapaport, Erik Erikson und Rudolf Loewenstein. Viele weitere Autoren leisteten wichtige Beiträge, die sowohl die Behandlungstechnik als auch die weitere Theoriebildung beeinflussten. Zu nennen sind hier u.a. R. Waelder, O. Fenichel, E. Jacobson, M. Mahler, H. Nunberg, J. Arlow, C. Brenner, L. Rangell, H. Blum. Unter Verweis auf Ernst Kris (1950) und Heinz Hartmann (1939) schrieb Jacob Arlow (1987): „Man kann die Psychoanalyse definieren als Untersuchung der menschlichen Natur unter dem Blickwinkel des Konflikts“ (S. 70). In seinem Essay über „Ich-Psychologie und moderne Strukturtheorie“ gelangte Blum (1998) zu dem Schluss, dass Ich-Psychologie „eine unglückliche Bezeichnung für eine Strukturtheorie war und eine eingekapselte ‚Ich- Psychologie‘ im wörtlichen Sinn nicht existiert“ (S. 31). In Reaktion auf die Psychologie des Es legte die Ich-Psychologie besonderen Wert auf die Beobachtung der psychischen Oberfläche als Abkömmling und Anzeichen der tieferen unbewussten Konflikte. Diese Entwicklung hing mit einem neuerlichen Interesse an dem vorbewussten und manifesten Inhalt von Phantasien, Träumen und Deckerinnerungen zusammen. Die Deutung wurde als sequentieller Prozess verstanden. Das Konzept der Deutungsschritte – von der Oberfläche in die Tiefe und „Abwehr vor Inhalt“ – unterstreicht die in den Kommunikationen des Patienten enthaltene Widerstandskomponente und repräsentiert eine stufenweise Analyse von verlängerter
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