Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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In Winnicotts zweitem Buch mit ausgewählten Beiträgen aus den späten 1950er bis frühen 1960er Jahren, The Maturational Processes and the Facilitating Environment ( Reifungsprozesse und fördernde Umwelt ) (Winnicott 1984 [1965]), werden die Reifungsprozesse, die von der Umwelt begleitet und gefördert werden müssen, aufs deutlichste herausgearbeitet. In einer Gegenüberstellung seiner eigenen Position und Kleins Sichtweise merkt Winnicott (1960) an, dass Klein die Bedeutsamkeit der Umwelt in den frühesten Entwicklungsphasen in dem Sinn anerkennt, dass „ihre Arbeit über die spaltenden Abwehrmechanismen sowie über Projektionen und Introjektionen und so weiter ein Versuch [sei], die Auswirkungen des Versagens der Umwelt-Fürsorge auf das Individuum zu formulieren“ (S. 50). Für Winnicott aber gibt es kein Individuum ohne eine Umwelt. Während Freud, Klein und Bion die Schwierigkeiten der ödipalen Situationen ausloteten, konzeptualisierte er einen prä- ödipalen Seinszustand, in dem Mutter und Säugling zunächst eine Einheit bilden. Statt eines angeborenen Konflikts rückt Winnicott die Vernachlässigung durch die Umwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Seinszustand des (prä-ödipalen) Säuglings und Kleinkindes ist sein eigentliches Thema. Entwicklung beruhigt weniger auf Konflikt und Konfliktlösung als vielmehr auf der Kontinuität des Seins. III. F. Selbstpsychologie, relationale Theorie und Intersubjektivitätstheorie Für andere psychoanalytische Modelle – vor allem jene, die die Selbst-Objekt- Beziehung zugrunde legen, sind Themen im Zusammenhang mit dem Konflikt für das Verständnis der Psychopathologie und für die Durchführung einer analytischen Behandlung von geringerer Bedeutung (Busch 2005; Canestri 2005; Smith 2005). Statt auf den Konflikt rekurriert man zur Erklärung schwerer Psychopathologie auf Defizite in den frühen, noch undifferenzierten Entwicklungsphasen. Die Selbstpsychologie sowie die post-selbstpsychologischen Entwicklungen (Kohut 1977; Ornstein und Ornstein 2005), aber auch die relationalen und intersubjektivistischen Schulen (Harris 2005) stellen die Zentralität des unbewussten intrapsychischen Konflikts infrage. Sie führen schwere Psychopathologien auf psychische Defizite zurück und erweitern so die Ursprünge der Psychopathologie auf jene Entwicklungsphasen, in denen noch keine Differenzierung zwischen Selbstrepräsentation und Objektrepräsentation erfolgt ist. Vor diesem Hintergrund können sich auch die drei psychischen Strukturen, in denen der Konflikt auftaucht (Es, Ich und Über-Ich), nicht normal entwickeln. Pathologische Prozesse sind die Folge. Traumata, Verluste und, ganz allgemein, das Fehlen eines emotional responsiven Objekts beeinträchtigen die Entwicklung der Ich- Struktur. Die Folgen reichen wesentlich weiter als die Konsequenzen, die aus Abkömmlingen der libidinösen und aggressiven Strebungen resultieren. Im Unterschied zu der Pathologie, die auf einem Konflikt zwischen Systemen beruht, wird die auf Defiziten basierende Pathologie auf Unzulänglichkeiten der

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