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IV. C. Mauricio Abadi Mauricio Abadi entwickelt in seinem Buch „Renacimiento de Edipo“ (1977) eine Neuinterpretation des Ödipuskomplexes auf der Grundlage einer neuen Auslegung von Sophokles‘ “Ödipus Rex“. Gemäß dieser Neufassung des Kernkomplexes sind die Elemente, die am Konflikt beteiligt sind, andere als die von der klassischen Theorie vorgesehenen. Abadi identifiziert die Todesangst als Motivation des gesamten Verhaltens. Jeder Versuch, die Manifestationen eines Subjekts zu deuten, kann wiederum in einer triadischen Dynamik verstanden werden. Die Figuren von Vater, Mutter und Sohn, die das Freud’sche Konzept des Öidpuskomplexes vorsieht, werden durch Rollen ersetzt, die gleichzeitig oder nacheinander von jeder der tatsächlichen Figuren eingenommen werden können. Beschrieben werden folgende Rollen: die retentive, die extraktive und die kindliche Rolle. Wenn die grundlegende Angst des Vaters und der Mutter die Todesangst ist, dann wird das Überleben imaginär durch den Besitz des Kindes gesichert. So gesehen, ist die Phantasie einer ewigen Schwangerschaft für beide Geschlechter universal. Verborgen durch die patriarchale Organisation, begleitet männlicher Neid die weibliche Fähigkeit, schwanger zu werden. Dies ist der Ursprung der „Couvade“, die in mehreren primitiven Kulturen belegt ist: Der künftige Vater mimt Geburtswehen und Entbindung, während seine Frau das Kind zur Welt bringt. Das Modell, anhand dessen Abadi erklärt, wie die drei spezifischen Rollen und die spezifischen Ängste, die diese Dialektik begleiten, miteinander zusammenhängen, ist das der Geburt mit den drei Elementen Schwangerschaft, Passage durch den Geburtskanal und extrauterines Leben. Der Konflikt entwickelt sich entlang zweier Achsen: des Kampfes zwischen den Geschlechtern und des Kampfes der Eltern gegen das Kind. Vater und Mutter kämpfen um den Besitz des Sohnes, der in dieser Konfrontation zum Wetteinsatz wird. Diese Auseinandersetzung steht im Zeichen zweier Gefühle: eines Liebesgefühls, das heißt, des Strebens nach Integrität, und eines Hassgefühls, das auf Opposition und Exklusion zielt. Der Sohn hingegen versucht, sich von einem Elternteil zu befreien, und muss deshalb ein Bündnis mit dem anderen schmieden. Das sexuelle Verlangen nach einem der beiden Elternteile ist sozusagen das Vehikel, der Weg, über den das Bündnis – Band/Bindung – geschlossen werden kann. Die retentive Rolle möchte den Sohn einverleiben (ewige Schwangerschaft), die extraktive hingegen versucht, mit dem zurückgehaltenen Sohn eine Einheit zu bilden, um ihn frei zu lassen oder um ihn, umgekehrt, zu besitzen. Der Kampf der Geschlechter nimmt so den Charakter folgender Verknüpfung an: „Damit ich leben kann, musst du sterben.“ Die Beziehung des Vaters zum Kind ist durch die Angst vor seiner eigenen Unfruchtbarkeit und das daraus resultierende Bedürfnis, den Sohn zu rauben, charakterisiert. Die Beziehung der Mutter zum Kind ist eine Verbindung, in der sie versucht, sich fortzupflanzen und das Produkt dann zurückzuhalten und den Vater auszuschließen. Der Sohn versucht, sich aus den von der Mutter gesetzten Grenzen zu befreien. Aufgrund der Abgeschlossenheit, in der sie ihn hält, rufen diese Strebungen Todesangst
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