Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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In der Fallgeschichte vom “kleinen Hans” (Freud 1909b) folgen Freuds Deutungen der Rationalität der nachträglichen Wirkung, ohne diese ausdrücklich zu benennen. Im Bericht über den “Wolfsmann” (Freud 1918b) verhält es sich anders. Hier erhält das Konzept eine höhere Komplexität, indem Freud die Sitzungen an sich und die Übertragung als dritte Nachwirkungen betrachtet, die für das Erreichen des Behandlungszieles erforderlich sind. Der berühmte Traum von den Wölfen und die Wespenphobie bildeten die erste und die zweite Nachwirkung – erste und zweite Après- coups – der Urszene, die sich früher ereignet hatte und damals nicht assimiliert worden war. In diesem Text wird das Konzept der Zeit für Freud, der jedes der Ereignisse zu datieren versucht, sehr wichtig. Bemerkenswerterweise verschwindet der Begriff “Nachträglichkeit” nach 1917 – mit einigen wenigen Ausnahmen – aus Freuds Schriften, während die Implikationen der zwei Phasen des Prozesses häufiger Erwähnung finden. Freud entwickelte sein Konzept in einer Zeit, in der seine Forschung ganz im Zeichen seines ätiologischen Interesses stand und er die zuvor schon von Breuer beobachtete Tendenz des Erinnerns beschrieb, einen zeitlich rückwärts gerichteten Weg einzuschlagen. Breuer (1893) hatte eine „‘rückläufige‘, von dem Organe des Gedächtnisses ausgehende Erregung“ (S. 248) beschrieben (die Geschichte wird an einem präzisen Punkt der Vergangenheit aufgegriffen und mit dem Ziel wiederholt, sie zu rekonstruieren und sich von ihr zu befreien) und auf der Grundlage dieser Beobachtung die kathartische Methode konzipiert. Freud folgte dem Pfad dieses Zurückgehens in der Zeit, ergänzte es aber um die Notwendigkeit der Verbalisierung, also der Produktion nachträglicher sprachlicher Wirkungen. Er benutzte diese Tendenz zur Regression, verbunden mit der Bedingung, eine sprachliche Verbindung zum Bewusstsein aufrechtzuerhalten, im Dienste des Behandlungszieles. So entwickelte er eine neue Methode, die psychoanalytische Behandlung, die durch ihr Protokoll, die Grundregel , definiert ist und das versprachlichte freie Assoziieren sowie eine spezifische psychische Arbeitsleistung, die nachträgliche Wirkung [ deferred effect ], verlangt. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu Emma, enthalten im “Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie”, II.Teil, Abschnitt 4, “Das hysterische Proton pseudos” (Freud 1950c, S. 444-448), liefert Freud eine präzise Beschreibung der “Nachträglichkeit”, indem er auf die zeitliche Regression in den Sitzungen fokussiert. Er unterteilt die erste Phase, die des Erlebnisses, in zwei rückläufige Szenen, von denen die eine (Szene 1, in der sich zwei Kommis über das Kleid der damals Zwölfjährigen lustig gemacht hatten) weniger lang zurückliegt und erinnert wird, während die zweite (Szene II, eine verdrängte Erinnerung an eine Zeit, als Emma acht Jahre alt war und ein Ladenbesitzer ihr durch die Kleider hindurch in die Genitalien kniff) früher und im strengen Sinn des Wortes unbewusst ist. Freud beruft sich in seinen Überlegungen auf Charcots Theorie des Traumas, die er bereits in den “Studien über Hysterie” (Freud und Breuer 1895d) dargelegt hatte, auf die diachrone Erzeugung von Symptomen in zwei Phasen sowie auf Breuers kathartische Methode des rückläufigen Erinnerns und der assoziativen Umarbeitung, grenzt sich davon jedoch durch seine gründliche

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