Zurück zum Inhaltsverzeichnis
ätiologische Forschung ab. Er betont die Rückwärtsgerichtetheit des kathartischen Erinnerns in den Sitzungen und den sexuellen Inhalt des Verdrängten. Auf diese Weise kehrt er den Verlauf der Ereignisse und der Zeit um. Er bezeichnet als Szene I die weniger lang zurückliegende Episode, d.h. Emmas “Erinnerung, als sie zwölf Jahre alt war (kurz nach der Pubertät). Sie ging in einen Laden etwas einkaufen, sah die beiden Kommis, von denen ihr einer in Erinnerung ist, miteinander lachen, und lief […] davon” (Freud 1950c, S. 445). Als Szene II bezeichnet er das ältere Erlebnis, die verdrängte Erinnerung an die sexuelle Belästigung in einem anderen Kaufladen, als sie acht Jahre alt war. Das zweite, symptomatische Ereignis war die Agoraphobie, der Zwang, “nicht allein in einen Kaufladen gehen” zu können (S. 455). Zwischen beiden Ereignissen liegt eine Latenzphase. Der Fall Emmas, die unter dem Zwang litt, nicht allein einkaufen gehen zu können (455) (später in den postfreudianischen europäischen und nordamerikanischen Subjekttheorien und paradigmatisch in der lateinamerikanischen Theoriebildung als “Emmas Modell der Nachträglichkeit” bezeichnet), steht für Freuds frühe Definition der Nachträglichkeit, aber auch für sein frühes Verständnis der Rolle von Trauma, Zeitlichkeit und Gedächtnis, Sexualität, Entwicklung sowie der Abwehr in der Neurosogenese und in der klinischen Arbeit, zusammengefasst in seiner nach wie vor gültigen Beschreibung: “Es liegt hier der Fall vor, daß eine Erinnerung einen Affekt erweckt, den sie als Erlebnis nicht erweckt hatte, weil unterdes die Veränderung der Pubertät ein anderes Verständnis des Erinnerten ermöglicht hat. […] Überall findet sich, daß eine Erinnerung verdrängt wird, die nur nachträglich zum Trauma geworden ist ” (S. 448; im Original ist nur das Wort nachträglich hervorgehoben). Diese Formulierung bringt die Nachträglichkeit in der Beziehung zwischen den Begriffen Erinnerung – verdrängt – Trauma unter. Das Gesamtzitat ist die Definition des Konzepts, dessen Dynamik aus dem Zusammenwirken von Erinnerung, Verdrängung und Trauma und aus der sie determinierenden Reihenfolge resultiert: in der Beziehung zu dem, was verdrängt wurde, wie es verdrängt wurde, wie es zum Trauma wurde, und wie die Erinnerung Sinn erhält. Schon Jean-Martin Charcot hatte bei der chronologischen Organisation der hysterischen Symptome zwei Phasen sowie eine dritte, die er als Phase der psychischen Inkubation oder psychischen Ausarbeitung bezeichnete, unterschieden. Diese dritte Phase liegt zwischen dem traumatischen Erlebnis (dem Schock) und der manifesten Nachwirkung (dem Symptom). Als Schüler Charcots (Freud war sein deutscher Übersetzer) und bestrebt, die psychischen Symptome aus der ätiologischen Sackgasse der Degenerationstheorie zu befreien, nahm Freud die chronologischen Datierungen des großen Meisters der Salpétrière ernst. Infolgedessen konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die Zwischenphase, in der die unsichtbare psychische Arbeit, die Ausarbeitung, stattfindet.
362
Made with FlippingBook - Online magazine maker