Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

III. POSTFREUDIANISCHE ENTWICKLUNGEN

III. A. Nachträglichkeit in der französischen Psychoanalyse Damit ist dieses Konzept aber noch nicht restlos erklärt. Seine Entwicklung nahm einen Verlauf, der die Inszenierung dessen, was es beschreibt, vervollständigt. Nach einer ersten Phase des manifesten Auftretens und einem zunächst unbemerkt bleibenden Verschwinden tauchte es in Frankreich mit Jacques Lacan wieder auf. Nun wurde es zu einem Grundkonzept der französischen Psychoanalyse, das erneut an die französischen Ursprünge (Charcot) des Prozesses selbst und seines zweiphasigen – zweizeitigen – Charakters anknüpfte. Lacan ging genauso vor wie Freud, als er den Begriff l’après-coup (eine Wortneuschöpfung) prägte, indem er von dem adverbial und adjektivisch verwendeten après coup ausging. Beide Schreibweisen – mit bzw. ohne Bindestrich – waren möglich. Um zwischen dem Substantiv und dem adjektivischen bzw. adverbaialen Gebrauch klar zu unterscheiden, benutzten einige Autoren, zum Beispiel Jean Laplanche, die beiden Begriffe „après -coup“ und „effet d’après-coup“; andere, zum Beispiel Chervet (2006), schlugen vor, den Bindestrich nur im Falle des Substantivs – „l’après-coup“ -, nicht aber für Adjektiv und Adverb zu verwenden. Im Zusammenhang mit dieser Akzentuierung der Nachträglichkeit äußerte sich Lacan besorgt über die Entwertung, die der Psychoanalyse in den Nachkriegsjahren wiederfuhr. Charakteristisch für diese Entwicklung waren ein psychologisierender und entwicklungspsychologischer „Genetizismus“, eine Theorie linearer und chronologischer Zeitlichkeit und die Ich-Psychologie. Durch seinen ureigenen Stil versuchte Lacan, sich den Prozess des Après-coup zueigen zu machen (Chervet 2010). Er plädierte für eine Rückkehr zu Freud und behauptete, dass die Wirkung der Nachträglichkeit „nie aufhöre“ (Lacan 1971): „Die Natur der Konstruktion des Symptoms muss eine nachträgliche sein“ (1956); „[…] alle Gesichtspunkte müssen bei jeder Gelegenheit von Grundprinzipien ausgehen, nachträglich, aprés-coup “ (1969, S. 295-307); „Das Nachträgliche (erinnern wir uns, dass ich der erste war, der es Freuds Text entnahm), Nachträglichkeit oder l‘après-coup , durch die das Trauma ins Symptom eingebunden wird, gibt eine zeitliche Struktur zu erkennen, die einer höheren Ordnung (als die Rückwirkung) angehört“ (1966, S. 839; 2006, S. 711). Und mit Bezug auf die beiden Phasen und die Versetzung in die Latenz schreibt er: „Das Danach hatte zu warten [ faisait antichambre ], damit das Zuvor seinen Platz einnehmen konnte“ (1966, S. 197/2006, S. 161). Lacan erkannte, dass das Konzept der Nachträglichkeit entwertet wird, wenn man es auf ein zeitliches Adverb und auf eine lineare Determinierung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ereignissen reduziert. Er vermied jedoch die ökonomischen Implikationen, die der Prozess der Nachträglichkeit in Bezug auf die reale Natur des traumatischen Ereignisses besitzt und durch seine regressive Arbeit erlangt; er betont lediglich die Rolle der Überdeterminierung bei der Wörterkette „durch die Nachträglichkeit [après-coup] ihrer Sequenz“ (1966 [1958], S. 532/2006, S. 446).

366

Made with FlippingBook - Online magazine maker